Artikel »Auch Rot-Grün rüstet die Türkei auf«
in Zeitung gegen den Krieg Nr. 19 vom Winter 2005


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»Auch Rot-Grün rüstet die Türkei auf«
in Zeitung gegen den Krieg Nr. 19

von Jürgen Grässlin

Bei Waffenlieferungen an die Türkei kann Deutschland auf eine unrühmliche Tradition zurückblicken. Am folgenschwersten haben sich die Lizenzvergaben im Handfeuerwaffenbereich ausgewirkt. Seit 1967 fertigte das staatliche Rüstungsunternehmen MKEK das Schnellfeuergewehr G3 und seit 1983 die Maschinenpistole MP5 der Oberndorfer Waffenfirma Heckler & Koch (H&K) auf der Basis deutscher Lizenzen. Diese avancierten zu den Standardwaffen der türkischen Polizei und des Militärs. Nur ein Jahr danach brach im Südosten des Landes ein Bürgerkrieg zwischen türkischen »Sicherheitskräften« und der PKK aus. Bis 1998 wurden mehr als 3500 kurdische Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Offiziell fanden mehr als 5000 Angehörige der Sicherheitskräfte, 40.000 PKK-Kämpfer sowie 5200 Zivilisten den Tod laut Augenzeugen starben rund 80 Prozent von ihnen durch den Einsatz von H&K-Waffen.

Unbeeindruckt vom massiven Einsatz deutscher Waffen im Krieg gegen die Kurden genehmigte die CDU/CSU-FDP-Bundesregierung während ihrer 16-jährigen Amtszeit im Rahmen der sogenannten NATO-Verteidigungshilfe Rüstungstransfers und Dienstleistungen im Wert von über 2,5 Milliarden Euro an die türkische Armee. Ankara erhielt NVA-Überschusswaffen, unter anderem 300 NVA-Schützenpanzer BTR 60, 256.125 Kalaschnikow-Sturmgewehre AK47 und 100 Millionen Schuss Munition.

Vor der Bundestagswahl 1998 demonstrierten Sozialdemokraten und Bündnisgrüne bei Friedensdemonstrationen medienträchtig für einen Politikwechsel - auch mit der Forderung: »Stoppt die Waffenexporte in die Türkei!« Kurz vor dem Regierungswechsel bewilligte Bundeskanzler Helmut Kohl die Lizenzvergabe für die Fertigung von rund 500.000 HK33-Gewehren bei MKEK. Das HK33-Gewehr wird das Schnellfeuergewehr G3 in den kommenden eineinhalb Jahrzehnten völlig ersetzen. Nach dem Regierungswechsel genehmigte Rot-Grün den Bau einer Fabrik zur Fertigung der HK33-Munition. Zukünftig wird also die türkische Armee mit HK33-Gewehren - genehmigt von der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung und der passenden 5.56 mm-Munition von Fritz Werner - genehmigt von der SPD-Grünen-Bundesregierung ihre Repression in Türkisch-Kurdistan aufrecht erhalten können.

Im Jahr 2002 rangierte Ankara mit Einzelgenehmigungen im Wert von 124,0 Millionen Euro auf Rang sieben der wichtigsten Bestimmungsländer deutscher Waffentransfers. Die Exportgenehmigungen für Abschußeinrichtungen für Flugkörper, Teile für Torpedos oder Feuerleiteinrichtungen stellen alles andere als einen Beitrag zum Frieden in der Türkei dar. Schlimmer noch. Obwohl im Herbst 2004 die neuerliche Präsenz von NVA-Panzern in Türkisch-Kurdistan durch ein deutsches Fernsehteam belegt wurde, spielte der Bundesverteidigungsminister zeitgleich mit dem Feuer. In Anwesenheit seines türkischen Kollegen Vecdi Gönül verkündete Peter Struck: »Wenn die türkische Regierung jetzt eine entsprechende Anfrage stellen würde, würde ich dem Bundeskanzler empfehlen, diese Anfrage positiv zu beantworten.« Die 350 Leopard-2-Panzer aus Bundeswehrbeständen sollen dabei lediglich eine Übergangslösung darstellen, bis sich die türkische Rüstungsindustrie in der Lage sieht, eigene Panzer zu fertigen. All dies passiert, obwohl die Türkei in zumindest drei Fällen den Endverbleib der beim Staatsunternehmen MKEK gefertigten MP5-Maschinenpistolen durch Reexporte an Staaten im Nahen Osten und nach Indonesien gebrochen hat. Gemäß den aktuellen »Politischen Grundsätzen zum Rüstungsexport« müßten allein schon dieser Vertragsbrüche wegen SÄMTLICHE Waffenexporte an die Türkei bis zur »Beseitigung der Umstände« gestoppt werden.

Strucks Panzerofferte an die NATO-Partner in der Türkei fällt in eine Zeit, da sich die Menschenrechtslage in der Türkei entgegen aller Regierungsverlautbarungen erneut verschlechtert hat. Amnesty International verweist auf »anhaltende Berichte über Folterungen und Mißhandlungen im Polizeigewahrsam und über die Anwendung exzessiver Gewalt gegenüber Demonstranten«. Und für das Jahr 2005 muß eine Intervention türkischer Streitkräfte in den Nordirak befürchtet werden, wie Regierungskreise in Ankara jüngst verlautbaren ließen. Mit diesem - wohlgemerkt völkerrechtswidrigen - Grenzübertritt will die türkische Regierung ein unabhängiges Kurdistan verhindern.

Inwiefern, so muß man sich fragen, kann die Türkei den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten, wenn die türkische Rüstungsindustrie wiederholt Verträge im sensiblen Bereich der »Kleinwaffen« bricht, türkische Sicherheitskräfte Menschenrechte massiv verletzen und die türkische Armee in einem Nachbarstaat intervenieren will? Diese Frage interessiert die Schröder-Fischer-Regierung allenfalls marginal. Zwar gilt es, die eigene Parteibasis ruhig zu stellen, und so darf auch ein grüner Bundesparteitag gegen Panzerlieferungen an Ankara stimmen - Folgen haben derartige Beschlüsse jedoch nicht. Über die Opfer dieser Politik schweigt man lieber, heute gilt Appeasementpolitik um des Machterhalts Willen. Angesichts der Vertragsbrüche, Menschenrechtsverletzungen und Interventionsgelüste kann die Forderung an Rot-Grün nur die eigene von 1998 sein: »Stoppt die Waffenexporte in die Türkei!« - und zwar sofort.