Lieber Herr Grässlin,
»Daimlers schärfster Widersacher« und »Deutschlands prominentester Rüstungsgegner«, so titelte der SPIEGEL über Sie. Wer solche starken Feinde hat, so finde ich, muss auch ein mutiger Mensch sein.
Sie sind inzwischen vielfacher Autor sachkritischer Bücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik. Ihr Buch über Herrn Schrempp stand lange auf der Bestseller-Liste. Sie sind Sprecher, Vorsitzender und Initiator verschiedenster Friedensinitiativen, mit einem enormen Kenntnishintergrund. Über unsere Mitgliedschaft bei »Ohne Rüstung leben«, einer christlichen Initiative aus Stuttgart, nahe am EUCOM, habe ich Sie kennen gelernt.
Aus einem zwar liebevollen, aber unpolitischen Elternhaus, sind Sie ein Beispiel dafür, dass dennoch ein mächtiger politischer Kämpfer werden kann – und das schon mehr als 25 Jahre! Harter Widerstand und kein bisschen müde.
Noch unerfahren und naiv traten Sie den Wehrdienst an. Als Sie sehr schnell erkannten, dass blinder Gehorsam gefordert war, dass man auf Laufbändern mit Attrappen von Chinesen zielen lernen sollte, da haben Sie sich verweigert. Bis heute haben Sie keinen einzigen Schuss abgegeben. Bald darauf waren sie aus der Bundeswehr entlassen.
Als junger Lehrer hatten Sie die Waffenfabrik gleich vor der Haustür. »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, so griffen Sie die Stadt Oberndorf an. So wurden Sie der meistgehasste Mann dieser Waffenstadt – und fühlen sich geehrt dabei. Dass Sie noch keine Auszeichnung bekommen hatten, wollte ich nicht glauben. Sie haben erkannt, dass angesichts menschlichen Leids Schweigen immer nur den Verursachern hilft, nie den Opfern. Jedes Mal, wenn man von Rüstung spricht, redet man auch von Armut, von Hunger, von Profit für die Waffenhändler, Profit für die Banken. Es gibt nach kompetenten Schätzungen auf der Welt mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel!
Als drittgrößter Waffenexporteur weltweit, hinter den USA und Russland, steigen auch bei der deutschen Firma Heckler & Koch in Oberndorf die Gewinne. Da wo alle stöhnen, kann die Waffenlobby jubeln. Nach SIPRI, dem schwedischen Friedensinstitut, stiegen die deutschen Exporte – auch über Lizenzen – in den letzten fünf Jahren um 70 Prozent. Als besondere Waffe gilt das G3-Gewehr, weltweit beliebt. »Südfrüchte aus Oberndorf«, heißt ein sehr kritischer Film über Heckler & Koch, »dem tödlichsten deutschen Unternehmen«, sagen Sie, Herr Grässlin.
In den Ferien waren Sie wiederholt in Somalia, wo der blindwütige Diktator Siad Barre mit dem G3-Gewehr die schlimmsten Massaker anrichtete. Sie haben, wie bei den Kurden, mit Hunderten von Überlebenden gesprochen, Fotos der Gräueltaten gemacht und sie dem Direktor der Waffenschmiede unter die Nase gehalten. Laut ROTEM KREUZ sterben heute zwei von drei Kriegsopfern durch Gewehrkugeln.
Zum diesjährigen 60ten Jubiläum skandierten Sie vor den Werkstoren mit Freunden: »60 Jahre Heckler & Koch: Kein Grund zu feiern!« Und diese Waffenschmiede bekam 2000 den Schwerstbehinderten-Preis als Arbeitsbeschaffer von Behinderten! Zynischer geht es wohl nicht! »Weichziele« nennt die Firma in ihrer Werbung die zu tötenden Menschen. Alle 14 Minuten stirbt ein Mensch auf der Erde an diesen Gewehrkugeln.
1989 wurde Jürgen Schrempp Chef des größten deutschen Rüstungskonzerns: von DAIMLER/Dasa. Wir kennen das Unternehmen als Auto-Hersteller. Aber da ist auch noch die dunkle Seite: Beteiligt ist DAIMLER maßgeblich an der Lieferung von Großwaffen: Rüstungsjets, Militärhubschrauber usw. von Brasilien bis Saudi-Arabien.
Die DEUTSCHE BANK AG als ehemalige Hausbank und Anteilseigner trägt direkte Mitschuld. »Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt« - siehe Foto von uns.
Nachdem die Publikation des »Daimler-Desasters« nicht verhindert werden konnte, überzogen die Herren Schrempp und Zetsche und der Konzern Sie, Herr Grässlin, mit einer Flut von Prozessen. Dieter Zetsche und versuchte Sie mit hohen Schmerzensgeldforderungen mundtot zu machen. Nicht eine Minute zögerten Sie, mit dem Hinweis auf Meinungsfreiheit standzuhalten. Als ich Sie kennen lernte, hatten Sie etwa 80.000,- Euro Schulden. Freunde helfen, die Last mit zu schultern. Im September dieses Jahres haben die Richter vor dem Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die grundgesetzlich verbürgte Meinungsfreiheit anerkannt und Sie, Herr Grässlin, freigesprochen. Ein großer Sieg, auch für die Meinungsfreiheit allgemein.
Als kritischer Aktionär bei DAIMLER wagten Sie vor Tausenden von Mitaktionären den Chef mit den Worten anzugreifen: »An Ihrer Hand klebt das Blut unzähliger Toter.« Die Botschaft wurde bebuht, heute werden Sie mehrheitlich mit Beifall bedacht.
Was mich bei Ihnen besonders beeindruckt, Herr Grässlin, ist ihre geradlinige, durch nichts vom Wege abzubringende Beharrlichkeit, gepaart mit, wie Sie selbst von sich sagen, unverbesserlichem Humor. Ohne diesen wäre ein solcher Einsatz nicht erträglich. Ohne seine Frau Eva im Hintergrund, wäre er gar nicht möglich. Auch ihr gilt heute unsere Auszeichnung und unser Dank. Ja, und da ist ja auch noch der bürgerliche Jürgen Grässlin: Als Realschullehrer (wir sind jetzt drei in der Stiftung) setzt er sich sehr bei seinen Schülern ein. Mit Freunden entwickelt er zurzeit Lernprogramme zur Gewaltlosigkeit.
Und da sind auch noch die ständigen Kampagnen und Vorträge zum Thema. Wann macht er das nur alles? Seine Zeit ist streng getaktet, und er braucht bewundernswert wenig Schlaf. Aber es wird wohl auch die Befriedigung des selbst gesteckten Zieles sein.
Und unsere Politiker? Erinnern Sie sich noch, wie die alten DDR-Panzer nicht etwa verschrottet, sondern an die Türkei verkauft und von denen mutmaßlich gegen die Kurden eingesetzt wurden? Es geht ums Geld und Arbeitsplätze, Menschenrechte zählen nicht. Was uns der Waffenlobbyist Schreiber demnächst wohl noch zu erzählen haben wird?
In einer Talkschau vor kurzem kamen dem Ex-Minister Dr. Vogel die Tränen angesichts der Erinnerung des kaltblütigen Mordes an Hans-Martin Schleyer und seinen Beschützern. Da dachte ich: »Der will wohl gar nichts von dem millionenfachen Töten mit deutschen Waffen wissen.« Zwar gibt es Gesetze gegen den Waffenexport in Krisengebiete, aber sie sind zahnlos und durch die Lobbyisten leicht zu umgehen.
Das kann, meiner Annahme nach, nur so gewollt sein. Thomas Mann hatte Recht: »Krieg ist nichts anderes als Drückebergerei vor den Aufgaben des Friedens.« Sie, Herr Grässlin, fordern von Berlin: »Schafft die Rüstungsindustrie ab. Nutzt die Konversion zur Herstellung ziviler Güter, wie Öko-Technik oder der Produktion von orthopädischen Hilfen, z. B. Prothetik, Rollstühle usw.
Ich persönlich fordere die Kirchen auf: Verdammen Sie die dauernden Menschenrechtsverletzungen und ihre Täter laut und deutlich. Sagen Sie, dass kein Christ die Mitarbeit an Rüstung verantworten kann. Zeigen Sie selbst Zivilcourage! Die Sicherung von Arbeitsplätzen darf nicht als Argument für die Rüstungsproduktion gelten.
Besonders dumm finde ich in diesem Kontext die Entschuldigung, wenn wir es nicht tun, tun es andere. Rüstungsexporte sind Beihilfe zu Massenmorden, aktiver Kriegserzeugung und Kriegsbeteiligungspolitik.
Als ich Sie nach den Wahlen darauf hinwies, dass mit der neuen politischen Konstellation Ihre Arbeit auch schwieriger werden würde, entgegneten Sie voller Überzeugung: »Wir werden weitermachen und eines Tages Erfolg haben.« Gibt es einen besseren Schluss für meine Worte?
Lieber Herr Grässlin, zusammen mit vielen anderen Menschen, auch mit den hier Anwesenden, bedanke ich mich bei Ihnen für ihren langjährigen Einsatz an vorderster Front. Im doppelten Sinne. Als äußeres Zeichen verleihe ich Ihnen heute den Zivilcourage-Preis der Solbach-Freise-Stiftung zusammen mit dem Preisgeld.
Anne Solbach-Freise