Artikel »Ja zur UNO, trotz aller Kritik«
Für mich als Pazifist besteht kein Zweifel: Viele Argumente sprechen gegen die UNO. Eine Vielzahl so genannter »Friedensmissionen« hat zur Eskalation geführt und in Kriegen geendet, allzu häufig sind UN-Soldaten selbst zur Kriegspartei geworden. Viel zu spät hat sich in den Vereinten Nationen die Erkenntnis durchgesetzt, dass staatliche Autonomie nicht über dem Schutz von Menschenrechten stehen darf. Die Entscheidungsstrukturen im UN-Sicherheitsrat sind nicht zuletzt wegen der Veto Möglichkeit der fünf ständigen Mitglieder undemokratisch, die Gesamtorganisation wird durch die Machtinteressen einzelner Staaten dominiert. Auch deshalb können die Vereinten Nationen ihrem in der UN-Charta formulierten Ziel, »den Weltfrieden zu wahren«, nur unzureichend gerecht werden.
Gerade der Irak-Krieg hat eindringlich belegt, wie sehr die Vereinten Nationen, allen voran durch die einzig verbliebene Weltmacht USA, mehr und mehr marginalisiert werden. Dass sie diesen Bedeutungsverlust durch die nachträgliche Legitimierung der US amerikanischen und britischen Intervention im Irak auch noch aktiv unterstützen und damit einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg den Schein der Legitimität verliehen haben, ist ein weiterer desaströser Fehler in einer langen Reihe schwer wiegender Fehlentscheidungen.
Und dennoch gibt es auch zahlreiche positive Beispiele, bei denen das Wirken der Vereinten Nationen die Eskalation von Konflikten zu Kriegen verhindert hat, in denen friedliche Streitschlichtungsmechanismen im Rahmen der UNO funktioniert haben. Doch wie im Falle der OSZE werden diese in den Medien totgeschwiegen und damit von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Vor allem aber ist die UNO die einzige weltweite Organisation, in der fast alle Staaten vertreten sind und die damit potenziell eine Grundlage dafür bildet, der ursprünglichen Vision näher zu kommen, »künftige Geschlechter von der Geißel des Krieges zu bewahren«, wie es in der UN-Gründungserklärung heißt. Damit wird Druck auf diejenigen ausgeübt, die abseits der Regeln des Völkerrechts agieren, ihre Machtinteressen auch gewaltsam durchsetzen wollen und sich dafür auf der »Weltbühne« verantworten müssen.
Nicht vergessen sollten wir auch, dass bei den Vereinten Nationen zunehmend die konstruktive Rolle und Bedeutung der Nicht-Regierungsorganisationen (Non Governmental Organizations, NGOs) erkannt, gewürdigt und eingebracht wird. So sind beispielsweise beim UN-Wirtschafts- und Sozialrat derzeit 1.500 NGOs mit einem Konsultativstatus akkreditiert. Das ist ein Schritt auf dem Weg zur Schaffung weltweiter Netzwerke, die zum Beispiel für die Kontrolle und Verhinderung der Proliferation von Atomwaffen bedeutsam sind.
Fest steht: Auch wenn die Einrichtung des früheren »Völkerbunds« uralten pazifistischen Forderungen und Vorstellungen entsprochen hat, können wir mit der heutigen UNO keinesfalls zufrieden sein. Als Pazifistinnen und Pazifisten müssen wir massiv die dringend anstehenden Reformen einfordern, allen voran die Schaffung demokratischer Strukturen im UN-Sicherheitsrat. In seiner jetzigen Form stellt dieser ein Relikt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg dar, in der die siegreichen Kriegsmächte den Kuchen weit gehend unter sich aufgeteilt haben. Ein Schritt hin zu einer gerechteren Weltfriedensordnung bestünde auch in einer stärkeren Einbindung der so genannten Entwicklungs- und Schwellenländer außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Kontinents in die Entscheidungsprozesse der UNO.
Ziel muss die Verwirklichung der UN-Charta sein. Dort heißt es in Artikel 1: Die Vereinten Nationen setzen sich dafür ein, »den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen.« Internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen können, gilt es »durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen«.
Eine noch so wohl klingende Charta nützt wenig, wenn sie instrumentalisiert oder schlichtweg ignoriert wird. Deshalb ist entscheidend, wie sehr die Regierungen der Mitgliedsstaaten die UNO zu einer Weltfriedensorganisation machen, die diesem Namen gerecht wird. Damit die Regierungen ihr Engagement zu Gunsten von Frieden, sozialer Gerechtigkeit und Umweltschutz nachhaltig erhöhen, sind vor allem die Zivilgesellschaften gefordert. So liegt es mehr denn je an NGOs wie der DFG-VK, den Druck auf die jeweilige Regierung derart zu erhöhen, dass diese das Völkerrecht achtet und dafür eintritt, die Vereinten Nationen zum entscheidenden Machtfaktor weltweiter Abrüstungs- und Friedenspolitik avancieren zu lassen.
Die Entwicklung der kommenden Jahre wird über die Zukunft der Vereinten Nationen entscheiden. Sollten das Völkerrecht im »Krieg gegen den Terror« weiterhin mit Füßen getreten und durch die UNO derlei Rechtsbrüche weiterhin legitimiert werden, dann werden sich die Vereinten Nationen selbst ad absurdum führen. Sollte es dagegen gelingen, militärische Interventionen der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten zu verhindern, dann wird die UNO ihrem selbst gesetzten Anspruch gerecht.
Wer die Vereinten Nationen seinerseits marginalisieren oder gar zerschlagen will, muss folgende Fragen beantworten: Welche realistische Alternative gibt es zur Stärkung der UNO auf dem Weg zur Weltfriedensorganisation? Wer moderiert und deeskaliert im Falle der UN-Auflösung bei kriegerischen Auseinandersetzungen? Die Antwort liegt auf der Hand: Noch sind die Zivilgesellschaften viel zu schwach, um diese Rolle einzunehmen. So blieben allenfalls Militärmächte à la USA und NATO. Genau deshalb sehe ich derzeit keine Alternative zur Stärkung der Vereinten Nationen und fordere, trotz aller Kritik, ihre Stärkung im Sinne der Charta.
Jürgen Grässlin ist DFG-VK-Bundessprecher.
Erschienen in ZivilCourage Nr. 4/2003