Artikel »GEGEN DIE NEUE WELTUNORDNUNG
KANN MAN ETWAS TUN« in ZivilCourage Nr. 2/2003


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Artikel »GEGEN DIE NEUE WELTUNORDNUNG
KANN MAN ETWAS TUN«

Von Jürgen Grässlin und Hartwig Hummel

»Wenn (...) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ob Krieg sein solle, oder nicht, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen.« Immanuel Kant

Die übergroße Mehrheit der Menschen in Europa, den USA und vielen weiteren Ländern der Welt hat in Meinungsumfragen und in Großdemonstrationen eindrucksvoll die Ablehnung eines Krieges gegen den Irak zum Ausdruck gebracht. Dennoch setzen sich viele Regierungen über den Mehrheitswillen ihrer Bevölkerung hinweg und leisten direkt oder indirekt Kriegsunterstützung. Die amerikanische und die britische Regierung drohen dem Irak ungebremst mit militärischer Gewalt bis hin zum völkerrechtswidrigen Atomwaffeneinsatz und erkennen den UN-Sicherheitsrat nur als Abnickergremium an. Dies offenbart einen schwerwiegenden Mangel an demokratischer Verantwortlichkeit in der Sicherheitspolitik.

Wir setzen uns dafür ein, dieses Demokratiedefizit zu beheben. Wir wollen Alternativen aufzeigen, wie die demokratische Öffentlichkeit den kriegsvorbereitenden Regierenden aktiv entgegen treten und eine leichtfertige Kriegsführung unmöglich machen könnte. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hat der Philosoph Immanuel Kant beschrieben, wie das funktionieren könnte. Kant geht vom rational handelnden Bürger aus, der den Krieg ablehnt, weil er ihn Leben sowie Hab und Gut kostet. Unter den Bedingungen der Demokratie, wenn also die individuellen Interessen in die Entscheidungen des politischen Systems eingehen, begünstigt dieses Handlungsmotiv ein friedliches Außenverhalten. Wir setzen uns dafür ein, diesen Mechanismus zum Tragen zu bringen.

Wenn die Bürger in den USA, in Großbritannien und anderen kriegsbereiten Ländern selbst in den Krieg ziehen müssten, wenn die Bürger wüssten, wie viel der Krieg sie selbst kostet, welche Opferzahlen von den Militärplanern einkalkuliert werden und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass im Krieg gegen alle Regeln des zivilen Umgangs verstoßen wird, dann - so die Übertragung des Kant'schen Kalküls - würden die Bürger nicht nur in Meinungsumfragen ihren Unwillen gegen den Krieg äußern. Sie würden selbst aktiv werden, um den Krieg zu verhindern, den ihre Regierenden zu führen gewillt scheinen.

Mit diesen Vorschlägen soll gezeigt werden, welcher Handlungsspielraum heute noch bleibt und wie der von Kant herausgearbeitete Mechanismus einer demokratischen Kontrolle kriegsverhindernd oder zumindest deeskalierend wirken könnte.


Gewährleistung öffentlicher Transparenz

Einrichtung unabhängiger, international vernetzter Informationsstellen über Kriegspropaganda und Medienmanipulation.

Zu Recht wies Winston Churchill darauf hin, dass im Krieg zuerst die Wahrheit stirbt. Die erste Notwendigkeit des Friedens ist die Transparenz des Geschehens. Wie aber können umfassende Transparenz und eine objektive Berichterstattung über das politische und militärische Vorgehen der verfeindeten Parteien und des Militärs hergestellt werden?

Die Erfahrungen aus dem Golf-Krieg 1991 und dem Kosovo Krieg 1999 haben gezeigt, dass die meisten Medienorgane höchst anfällig für Desinformation und subtile Public Relation seitens der Konfliktparteien sind. Um manipulative Praktiken zu bremsen und um einen verlässlichen Informationsstandard für die Öffentlichkeit gerade in Krisenzeiten zu gewährleisten, sollten unabhängige, international vernetzte Informationsstellen eingerichtet werden. Diese sollten einerseits zuverlässige Informationen zur Verfügung stellen (z.B. auf der Basis der in vielen Kriegen als verlässlich bewährten Berichterstattung der BBC), andererseits Hinweise auf Kriegspropaganda und Medienmanipulation sammeln, um Desinformationsversuche frühzeitig aufzudecken.

Als Träger dieser Informationsstellen kämen beispielsweise JournalistInnen, GewerkschafterInnen und nichtkommerzielle Nachrichtenagenturen (beispielsweise der Kirchen) in Frage.


Monitoring nicht erlaubter Kriegsziele

Die internationale Öffentlichkeit sollte sich selbst ein Bild machen, ob zivile Ziele aus der Kriegsplanung ausgeklammert werden. Im Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte verpflichteten sich die Staaten, medizinische Einrichtungen in Kampfhandlungen von Angriffen zu verschonen, die Zivilbevölkerung und zivile Objekte allgemein zu schützen, insbesondere Kulturgüter und Kultstätten, für die Zivilbevölkerung lebensnotwendige Objekte, die natürliche Umwelt, und Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten, nicht anzugreifen (Art. 51 bis 56).

Das Internet böte heutzutage die Möglichkeit dazu. Durch Webcams (billige Digitalkameras, die kontinuierlich Bilder ins Internet schicken) könnten Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, Kulturdenkmäler etc. fortwährend beobachtet werden. Hierzu könnten Patengruppen aus der ganzen Welt beitragen.


Einforderung völkerrechtlicher Normen

Gutachten des IGH zu völkerrechtswidrigem Atomwaffeneinsatz

Am 8. Juli 1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) auf Ersuchen der UN Generalversammlung ein Gutachten zur Frage der Legalität von Nuklearwaffeneinsätzen erstattet. Die zentrale Aussage des Gutachtens lautet, dass - jedenfalls jenseits der Selbstverteidigung eines in seiner Existenz bedrohten Staates - die Androhung oder der Einsatz von Nuklearwaffen gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht verstoßen würde. Die verkündete Androhung eines Nuklearwaffeneinsatzes durch die USA oder Großbritannien gegen den Irak stellt bereits einen eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht dar.

Nun können Bürgerinnen und Bürger leider (noch) nicht direkt die Achtung des Völkerrechts gegen Regierungen einklagen. Doch eine Beteiligung an völkerrechtwidrigen Handlungen verbieten das Grundgesetz sowie die Verfassungen anderer Länder. Diese Rechtsgrundlage könnte eine Handhabe für alle Betroffenen darstellen, sich solchen völkerrechtswidrigen Handlungen zu widersetzen.


Vorsorgliche Vorbereitung eines Irak-Krieg-Tribunals

Da auf Grund der bisherigen Erfahrungen leider damit zu rechnen ist, dass auch im dritten Irak-Krieg das Kriegsvölkerrecht und die Menschenrechte missachtet werden, sollte die Zivilgesellschaft präventiv alle relevanten Informationen sammeln, um sie ggf. dem Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) übergeben zu können.

Sollte der IstGH in diesem Falle nicht aktiv werden, so könnte die Zivilgesellschaft ein eigenes internationales Tribunal nach dem Vorbild des Russell-Tribunals gegen den Vietnam-Krieg bzw. der Wahrheitskommissionen vorbereiten. Wer Krieg führt, muss damit rechnen, dass Kriegsverbrechen nicht unbeobachtet und ungeahndet begangen werden können.


Misstrauensvotum gegen UN Sicherheitsratsmitglieder

Der UN Sicherheitsrat trägt nach der Charta der Vereinten Nationen die Hauptverantwortung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit. Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sollten denjenigen Staaten, die sich über unseren offenkundigen Friedenswillen hinweg setzen, unser Misstrauen aussprechen und ihnen die Berechtigung entziehen, über den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu entscheiden.
Aufdeckung der Opportunitätskosten des Krieges

Kriegsuhren zu Kriegskosten aufstellen

Je nach Kriegsverlauf werden die Kosten des Irak-Kriegs auf Milliarden bis Billionen US-Dollar geschätzt. In den Hauptstädten der Länder, die die militärische Intervention gegen den Irak unterstützen, sollen Kriegsuhren aufgestellt werden. Diese zeigen den Bürgern, wie viel Geld ihre Regierung für die direkte oder indirekte Kriegsunterstützung ausgibt.

Zur Aufdeckung der Opportunitätskosten (Vergleich verschiedener Verwendungsweisen von Geld) sind den Aufwendungen für den Krieg die Defizite bei den Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Flüchtlingsausgaben gegenüber zu stellen.


Offene Grenzen für Flüchtlinge: Organisation der Aufnahme von Kontingentflüchtlingen

Gerade Flüchtlinge aus dem Irak versuchten immer wieder, auf abenteuerlichen Wegen (z.B. in lebensgefährlichen Fahrten mit schrottreifen Booten über das Mittelmeer) Asyl und Schutz in der Europäischen Union zu finden. An öffentlichen Ressentiments in der EU, vor allem an den angeblich nicht tragbaren Kosten für die Aufnahme und Integration dieser Flüchtlinge, scheiterte oft die Flucht dieser Menschen.

Auf der anderen Seite werden von westlicher Seite riesige Finanzmittel für die Kriegsvorbereitung und Kriegführung bereitgestellt. Wir rufen Finanzexperten und Fachwissenschaftler auf, die Öffentlichkeit zu informieren, in welchem Verhältnis die Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen zu den erwarteten Kosten für den Krieg stehen. Wir fordern Flüchtlingsinitiativen und Kirchen auf, sich offensiv für die liberale Aufnahme von Irak Flüchtlingen als Alternative zu einem Krieg einzusetzen.

Die Bürger in den Staaten der Europäischen Union, der Afrikanischen Union sowie der Arabischen Liga müssen sich bereits im Vorfeld des Irak Kriegs auf die Aufnahme von Flüchtlingen vorbereiten. Ihre Regierungen müssen sich darüber einigen und in ausreichendem Umfang Kontingente festlegen. Für alle Flüchtlinge sind die Aufnahme, volle medizinische Versorgung und ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten.


Ächtung aller Kriegsgewinnler

Selbstverpflichtungserklärungen und Boykott von Ölkonzernen als Kriegsgewinnler

Wenn es stimmt, dass Ölinteressen zur Eskalation des Irak-Konflikts beitragen, dann könnte sich die Öffentlichkeit aktiv darum bemühen, derartige Kriegstreiberei aufzudecken und einzudämmen.

Die Verwirklichung von Partikularinteressen auf Kosten des allgemeinen Interesses am Frieden ist nur möglich, wenn dies vor der Öffentlichkeit verborgen oder von ihr stillschweigend geduldet wird. Der Fall »Brent Spar« hat gezeigt, welche Macht die BürgerInnen als VerbraucherInnen haben. Sie könnten die amerikanischen, britischen, russischen und französischen Ölkonzerne sowie die anderer Länder veranlassen, sich zu verpflichten, sich nicht an einem Irak-Krieg zu bereichern. Kriegsgewinnler sind zu ächten.

Das irakische Öl muss unter UN Kontrolle dem Wiederaufbau des Landes dienen.


Kritische Beobachtung der Börse

Eine Vielzahl von Unternehmen (z.B. der Rüstungs-, Öl- und Bauindustrie) stehen im Verdacht, auf den Krieg zu spekulieren und sich offensiv an der Kriegsvorbereitung zu bereichern. In Selbstverpflichtungserklärungen müssen sich diese Unternehmen vom Krieg distanzieren und auf Kriegsprofite verzichten.

Nach dem Vorbild kritischer Aktionäre und Aktionärsverbände könnten Monitoring Initiativen der Zivilgesellschaft die Tätigkeit der Unternehmen und Finanzinstitutionen und das Geschehen an den Börsen während der Konflikteskalation beobachten. Unternehmen und Finanzinstitutionen, die offensiv auf Krieg spekulieren, sollten keine Geschäftspartner mehr für öffentliche Einrichtungen oder zivilgesellschaftliche Institutionen sein.

Auch die Kunden sollten informiert werden, wen sie mit ihren Kaufentscheidungen unterstützen. Kriegsgewinnler sollten boykottiert werden.


Grundsätzliche Änderung der Energiepolitik

Um die mittelfristige Änderung der Energiepolitik (weg vom Öl und Atomstrom hin zu regenerativen Energiequellen) zu befördern, müssen die Menschen in den Industriestaaten den eigenen Energiekonsum drastisch vermindern. Erstes Zwischenziel wäre dabei die Energieeinsparung im Umfang der Ölzulieferungen des Irak.

Um den notwendigen Druck auf ihre Regierungen für den Umstellungsprozess zu erzeugen, bieten sich eine Vielzahl von Aktionen an (von Auto Aufklebern »Besser Energie sparen als Energie herbeibomben« oder »Save oil, do not fight for oil! « bis hin zu gewaltfreien Aktionen vor den Zentralen der Ölkonzerne).

Diese Aktionen sollten in enger Kooperation mit der US amerikanischen Friedens- und Umweltbewegung stattfinden.


Präventive Präsenz der internationalen Zivilgesellschaft zur Abschreckung gegen den Krieg

Die rational handelnden Staatsbürger im Sinne Kants wollen primär durch Nichtteilnahme am Krieg Gefahr für eigenes Leben und Schaden an ihrem Hab und Gut abwenden. Viele Staatsbürgerinnen und Staatbürger sind der Auffassung, dass die Verweigerung ihrer Kriegsteilnahme nicht ausreicht. Sie können zum Schluss kommen, dass gerade ihre Präsenz in der Konfliktregion eine abschreckende Wirkung auf die Kriegsparteien ausüben könnte.

Die Kriegskalküle könnten durcheinander geraten, wenn nicht der Gegner, sondern wenn engagierte ZivilistInnen im Visier der Waffen auftauchen.

Aktivitäten für eine Kultur des Friedens

Für KünstlerInnen, MusikerInnen, SchauspielerInnen und SchriftstellerInnen bietet sich ein breites Spektrum kultureller Aktivitäten in ihrem Heimatland oder im Irak, um mit Sessions, Konzerten, Theateraufführungen oder Lesungen dem Irak Krieg kreativ entgegenzutreten.


Zivile Konfliktlösung durch Friedens und Menschenrechtsorganisationen

Die Friedens und Menschenrechtsbewegung sollte durch Präsenz vor Ort zur Konfliktdeeskalation beitragen (Peace Brigades, Zivile Friedensdienste etc.). Kurzfristig sollten internationale Konferenzen, Kongresse und Tagungen maßgeblicher Organisationen der Friedensbewegung in Bagdad einberufen werden, um Fortschritte in Fragen der Abrüstung und der Menschenrechte zu erzielen.

Anstatt die Bürger des eigenen Landes zur Ausreise aus dem Irak aufzufordern, sollten renommierte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Politiker, die für eine friedliche Lösung plädieren, in den Irak reisen, um sich beispielsweise mit Vertretern des Regimes Saddam Hussein und Oppositionspolitikern zu treffen. Ziel sind Vorbereitungsgespräche für weitere internationale Friedenskonferenzen. Bei Treffen mit Vertretern der irakischen Regierung sollte allerdings auch massiv Kritik an den Menschenrechtsverletzungen des Regimes von Saddam Hussein geübt werden.


Dialog der Weltreligionen bei internationalen Kirchenkonferenzen

Auf Einladung führender Vertreter der Weltreligionen sollte in Bagdad der notwendige Dialog zur Förderung des interreligiösen Dialogs aufgenommen werden. Der Papst sollte nicht nur führende Regierungsvertreter aus dem Irak im Vatikan empfangen, sondern (eventuell direkt vor einem drohenden Kriegsbeginn) selbst in die irakische Hauptstadt reisen - »Wenn der Papst in Bagdad ist, kann Bush nicht bombardieren«.


Aufstehen für den Frieden

Um diese Ziele zu erreichen, sollte die Friedens-, Menschenrechts-, Flüchtlings-, Frauen-, Umwelt- und Dritte-Welt-Bewegung gemeinsam mit Kirchen, Gewerkschaften und Globalisierungsgegnern in vielzähligen gewaltfreien Aktionsformen auf ihre Ideen, Modelle und Konzepte aufmerksam machen.

Am Tag X, dem Tag des Kriegsbeginns, könnten Millionen von Menschen demonstrieren statt zu arbeiten. Weltweit sollten die Protestaktionen von den Regierungen unterstützt werden. Nicht einzelne, sondern ganze Länder erklären hierbei ihre Abneigung und ihren Widerstand gegen den Krieg im Irak. Statt einer allgemeinen militärischen Mobilmachung sollte bei Seminaren, Großveranstaltungen und in Form von parlamentarischen Resolutionen Friedenserziehung praktiziert und für den Frieden mobilisiert werden.

Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der DFG-VK, Prof. Dr. Hartwig Hummel ist Friedensforscher an der Universität Düsseldorf.

Erschienen in ZivilCourage Nr. 2/2003, S. 6 ff.