Interview mit JG »'Die Büchse der Pandora ist geöffnet'.
Beim Waffenhandel klaffen Anspruch und Wirklichkeit
der Großen Koalition eklatant auseinander,
meint Jürgen Grässlin im Interview mit der SoZ«
vom 1.12.2014



»Die Büchse der Pandora ist geöffnet«

Beim Waffenhandel klaffen Anspruch und Wirklichkeit der Großen Koalition eklatant auseinander, meint Jürgen Grässlin im Interview mit der SoZ

Die erste Halbjahresbilanz der Regierung Merkel/Gabriel »ist im Rüstungsexportbereich mehr als ernüchternd«, sagt Jürgen Grässlin, Sprecher der Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« Auch die neue Bundesregierung leistet durch die Genehmigung von Waffenexporten an menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten »Beihilfe zu Massenmord«. Dabei nimmt sie permanenten Rechtsbruch in Kauf – nicht nur im Fall der Gewehr- und Munitionslieferungen an die irakischen Peschmerga.
Die Aufschrei-Kampagne ist das breiteteste Bündnis aller Zeiten gegen Waffenhandel in Deutschland: Friedens-, Menschenrechts-, Flüchtlings- und Globalisierungsbewegung sowie die evangelische und katholische Kirche setzen sich gemeinsam für ein grundsätzliches Rüstungsexportverbot ein, das in Artikel 26 (2) des Grundgesetzes festgeschrieben werden muss. Die Kampagne »Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!« fordert die Bundesregierung nachdrücklich auf, dem knallharten Lobbyismus der Rüstungsindustrie aktiv entgegenzutreten und sofort Förderungsprogramme zur Rüstungskonversion zu erstellen. Damit muss die Umstellung auf eine nachhaltige, ethisch verantwortbare Zivilfertigung in die Wege geleitet werden. Erste Erfolge sind bereits erkennbar: So wurde der geplante Export von 270 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 von Krauss-Maffei Wegmann und Rheinmetall an Saudi-Arabien verhindert.

Sigmar Gabriel ist angetreten mit der Vorgabe, die Bestimmungen für den Waffenexport verschärfen zu wollen. Wie beurteilen Sie das erste Jahr des Wirtschaftsministers, der für den Waffenhandel verantwortlich zeichnet?

Am letztjährigen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember 2013, hatte der wenige Monate zuvor zum neuen Bundeswirtschaftminister gekürte Sigmar Gabriel vollmundig verkündet: Ein wichtiger Beitrag für Menschenrechte und Frieden sei »eine klare und restriktive Rüstungsexportkontrolle«. Sozialdemokraten hätten es geschafft, in den Koalitionsvertrag »wieder ein verbindliches Bekenntnis zu den restriktiven Grundsätzen des Jahres 2000 festzuschreiben«. Jetzt gelte es, die Rüstungsexportpraxis der künftigen Bundesregierung »spürbar zu ändern«. Wohlige Worte, die Hoffnungen auf eine Änderung der desaströsen Rüstungsexportpolitik schürten.

… und doch nicht erfüllten?

Bisher nicht im Mindesten. Denn den Ankündigungen folgten diametral entgegengesetzte Taten. Zwar wurde die Transparenz durch nunmehr halbjährlich publizierte Rüstungsexportberichte spürbar verbessert. Doch in der Sache setzt Sigmar Gabriel das Rüstungsexportdesaster seines Vorgängers, Philipp Rösler (FDP), fort.

Lässt sich dieses harte Urteil in Zahlen fassen?

Leider ist dem so. Der Rüstungsexportbericht der Bundesregierung für das erste Halbjahr 2014 stellt schlichtweg einen Offenbarungseid dar. Sowohl im ersten Halbjahr 2013 als auch im vergleichbaren Zeitraum 2014 betrugen die Ausfuhrgenehmigungen für Großwaffensysteme wie Kriegsschiffe, Kampfpanzer und -flugzeuge sowie für Kleinwaffen, also Pistolen und Sturmgewehre, in Drittstaaten rund 1,4 Mrd. Euro. Kaum zu glauben, aber die SPD setzt als Regierungspartei die enthemmte Rüstungsexportpolitik an menschenrechtsverletzende Staaten ungebrochen fort, die sie in der Opposition noch so vehement moniert und kritisiert hat.

Was bedeutet, dass das hohe Niveau der Vorgängerregierung gehalten wird…

… im entscheidenden Bereich sogar erhöht. Denn gerade der Anteil der Waffentransfers in die besonders bedenklichen »Drittländer« mit zahlreichen menschenrechtsverletzenden Staaten und gar Diktaturen, wurde von Januar bis Juni 2014 von 50 auf 63,5 Prozent erhöht. Er erreichte ein historisches Rekordhoch. Auch aus rechtlicher Sicht ist das höchst bedenklich. Rüstungsexporte in Drittländer, die nicht Mitglied der NATO oder NATO-assoziiert sind, sind allenfalls in begründeten Ausnahmenfällen erlaubt. Dessen ungeachtet hat die Große Koalition den Ausnahme- zum Regelfall gemacht. Sie bricht damit deutsches Recht. Auch die Waffentransfers in den Irak stellen einen eklatanten Rechtsbruch dar.

Wie begründen Sie diesen Vorwurf?

Mit den aktuell erteilten Genehmigungen für Kriegswaffenlieferungen an die irakischen Peschmerga unterwandert die Bundesregierung das bis heute bestehende Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen den Irak. Mit den derzeit laufenden Gewehr-, Panzerabwehrraketen- und Munitionslieferungen bricht sie Völkerrecht und Grundgesetz. In den Exportentscheid waren weder die Bundesregierung noch der geheim tagende Bundessicherheitsrat involviert.
Merkel und Gabriel gießen Öl ins Feuer eines Krieges mit dramatischen Folgen. Die Menschen im Nahen Osten benötigen ein Vielfaches an humanitärer Hilfe, keinesfalls aber militärisches Gerät in der Region mit einer der höchsten Kriegswaffendichten weltweit.

Welche Waffen werden zurzeit an die Peschmerga geliefert?

Ende August entschieden die Bundeskanzlerin und vier Minister von CDU/CSU und SPD in trauter Runde, insgesamt 16.000 G3- und G36-Sturmgewehre mit 6 Millionen Schuss Munition, weitere 40 MG3-Maschinengewehre mit 1 Million Schuss Munition sowie 8000 P1-Pistolen mit 1 Million Schuss Munition, 30 Panzerabwehrwaffen Milan mit 500 Lenkflugkörpern, 200 Panzerfäuste-3 mit 2500 Patronen, 40 Schwere Panzerfäuste mit 1000 Patronen, 100 Signalpistolen mit 4000 Patronen und 10.000 Handgranaten in das Bürgerkriegsland Irak auszuliefern. Besagte Kriegswaffen stammen aus Bundeswehrbeständen.

Wie ist das Unterlaufen des UN-Waffenembargos rechtlich zu bewerten?

Die Rechtslage ist eindeutig. Artikel 25 des Grundgesetzes bestimmt, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts über das Gewaltverbot der Charta der Vereinten Nationen von 1949 Bestandteil des Bundesrechts sind. Mit der UN-Charta wurde das frühere Recht eines souveränen Staates, einen Krieg führen zu können, abgeschafft. Besagte deutsche Kriegswaffenexporte in den Irak sind folglich völkerrechtswidrig.
Gemäß der selbstgesetzten Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport darf Deutschland – so steht es im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaffenkontrollgesetz – »bei bewaffneten internen Auseinandersetzungen« keine Kriegswaffen und Rüstungsgüter liefern.
Zweifelsfrei stellen die Waffentransfers an die Peschmerga, die Endempfänger deutscher Kriegswaffen, einen Präzedenzfall dar, der als Türöffner für kommende Waffentransfers dienen wird. So jedenfalls sind die Interessen der Rüstungsindustrie. Weitere Waffenanforderungen anderer Staaten in Krisen- und Kriegsgebieten sollen folgen. Die Büchse der Pandora ist geöffnet.

Welche Folgen wird das Vorgehen der Bundesregierung haben?

Der Einsatz dieser Kriegswaffen wird zur weiteren Gewalteskalation im Pulverfass Irak beitragen. Durch den Einsatz deutscher Waffen werden auf mehrere Jahrzehnte hinaus – so lange halten Waffen im Kriegseinsatz – im Nahen Osten schwerste Menschenrechtsverletzungen ermöglicht. Die erste Folge kann sein: In dem Moment, da die Kämpfer im Nordirak im Einsatz dieser Waffen geschult sind, können sie gegen die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) eingesetzt und kann dessen Vormarsch womöglich gestoppt werden. Den militärischen Erfolg kann allerdings niemand garantieren, denn der IS verfügt seinerseits über hochmoderne US-Waffen, die im Irak-Krieg erbeutet worden sind – und bereits jetzt schon auch über deutsche Waffen und Munition aus deutscher Fertigung.

Können Sie das belegen?

Jüngst wurden Munitionspatronen deutscher Herkunft beim IS-Militäreinsatz entdeckt. Kein Wunder, denn G3-Sturmgewehre der Firma Heckler & Koch sind überall im Kriegsgebiet zu finden. Überhaupt sind der Nahe und Mittlere Osten mit G3- und G36-Gewehren überschwemmt. Letztere stellt Saudi-Arabien gar auf der Basis einer 2008 von der Regierung Merkel/Steinmeier erteilten Lizenz in Eigenregie her. Auch in Syrien, wo ISIS entstand, haben alle Kriegsparteien unzählige in Deutschland entwickelte G3-Sturmgewehre im Einsatz. Die Hisbollah-Kämpfer aus dem Libanon, die für Assad ins Gefecht ziehen, feuern damit ebenso wie moderate Gegner des Regimes oder selbst ernannte Gotteskrieger von der Al-Nusra-Front. So die Analyse des Zeit-Journalisten Hauke Friederichs.
Damit nicht genug: Am 1.September 2014, just am Tag des Bundestagsentscheids zugunsten deutscher Kriegswaffenlieferungen in den Irak, veröffentlichte Die Welt ein Propagandavideo. IS-Terroristen präsentierten darin erbeutetes Kriegsgerät. Zu sehen war eine verpackte Rakete. In deutscher Sprache ist darauf zu lesen »Lenkflugkörper DM 72 – 136 mm Panzerabwehr«.
In meinem »Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient« habe ich umfassend Kriegswaffenlieferungen und Lizenzvergaben in den Nahen und Mittleren Osten belegt. Die Waffen sind dort, sie werden eingesetzt. Die Frage lautet also nicht: Wird der Islamische Staat jemals mit G3 und G36 morden? Sie lautet vielmehr: Wann erfolgen seitens des IS die ersten Exekutionen mit Heckler & Koch-Gewehren?
Wir wissen, dass Kugeln aus Gewehrläufen zwei Drittel aller Kriegstoten verursachen – diese sogenannten »Kleinwaffen« sind die tödlichste Waffengattung weltweit. Einmal mehr leistet eine Bundesregierung »Beihilfe zu Massenmord«.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?

Der Bundessprecherkreises der Deutschen Friedensgesellschaft -Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) fordert im Wissen um die drohenden weiteren Menschenrechtsverletzungen mit deutschen Waffen und in Erkenntnis der Völkerrechtswidrigkeit der Lieferung von Kriegswaffen in den Irak: * von der Bundesregierung die Rücknahme der Lieferentscheidung deutscher Kriegswaffen in den Irak, * von allen an der Ausfuhr Beteiligten – in der Politik, bei der Bundeswehr, beim Zoll und der Abfertigung – die aktive Behinderung sowie Verhinderung der Waffenausfuhren in den Irak. Wir bitten friedensbewegte Bürgerinnen und Bürger, unseren Aufruf »Waffenlieferungen in den Irak be- und verhindern« zu unterzeichnen und Friedensaktivitäten gegen die Kriegswaffenexporte in den Irak zu unterstützen.

Jürgen Grässlin ist auch Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD) und Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.). Er ist Autor zahlreicher kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte sowie Militär- und Wirtschaftspolitik, darunter internationale Bestseller. Zuletzt verfasste er das »Schwarzbuch Waffenhandel. Wie Deutschland am Krieg verdient«.
Grässlin wurde mit mehreren Preisen für Frieden und Zivilcourage ausgezeichnet, u.a. mit dem »Aachener Friedenspreis«.

Der Aufruf »Waffenlieferungen in den Irak be- und verhindern« kann unter Angabe des Wohnortes unterstützt werden:
per Post an DFG-VK-Bundesverband, Werastr. 10, 70182 Stuttgart;
oder per E-Mail an: dfg-vk@stoppt-den-waffenhandel.de;
oder online unter https://www.frieden-mitmachen.de.
Nähere Infos unter: www.juergengraesslin.com; www.aufschrei-waffenhandel.de