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Mit den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien wird die Bundeswehr zur global operierenden Interventionsarmee«
Die vom CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe 1992 vorgelegten Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) wurden von den damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne vehement kritisiert. Zu Recht, denn auf der Basis der damaligen VPR konnte der Prozess der Umstrukturierung der Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee eingeleitet werden. Mit den neuen VPR hat die Rot-Grüne-Bundesregierung im Mai 2003 das aggressivste Bundeswehrprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg verabschiedet und damit Rühes Salamitaktik nahezu vollendet. Unter dem Deckmantel »humanitärer Interventionen« wird die weltweite Kriegsbeteiligung der Bundeswehr wieder zum Mittel der Politik.
Die im November 1992 erlassenen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPR) standen unter dem Eindruck des Endes der Blockkonfrontation zwischen Warschauer Pakt und NATO. Verteidigungsminister Rühe erkannte, dass »für Deutschland die existentielle Bedrohung des Kalten Krieges irreversibel überwunden« war. »Der bedrohliche Fall einer groß angelegten Aggression ist höchst unwahrscheinlich geworden«, hieß es in den damaligen VPR. Allerdings wachse »die Wahrscheinlichkeit weniger bedrohlicher Konflikte im erweiterten geographischen Umfeld«.#1
Von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee
Unverblümt definierte Rühe die »vitalen Sicherheitsinteressen«, zu
denen auch wirtschaftliche - wie die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des
ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten
Weltwirtschaftsordnung« - zählten.#2 Um ein flexibles Eingreifen zu ermöglichen, musste
die Bundeswehr von einer Verteidigungs- zu einer Interventionsarmee umstrukturiert werden.
Fortan galt: »die Eignung der Streitkräfte zum Kriseneinsatz muss auf breiter Grundlage
verbessert werden.« Hierzu sollten die zum Kampfeinsatz befähigten
Krisenreaktionskräfte (KRK) aufgebaut werden, die sich an den »realen Bedingungen von
Krieg, Gefahr und menschlichem Elend orientieren, unter denen Soldaten künftig ihren
Dienst leisten wollen«.#3
Der Umstrukturierungsprozess wurde unter dem Deckmantel »humanitärer Friedensmissionen«
vollzogen. Mit einer schrittweise umzusetzenden »Salamitaktik« versuchte
Verteidigungsminister Rühe die damals überwiegend militärkritisch eingestellte
Öffentlichkeit im Widerspruch zum Grundgesetz an Bundeswehreinsätze außerhalb des
NATO-Territoriums heranzuführen.
Mit den rechtswidrigen Out-of-Area-Einsätzen im Persischen Golf
(Minensuchverband »Südflanke« 1991), in Kambodscha (UNTAC »Engel von Phnom Penh«
1991), im ehemaligen Jugoslawien (UNPROFOR, Luftbrücke Sarajewo, 1992 und
Awacs-Luftüberwachung in Bosnien-Herzegowina 1993), in Somalia (Hilfsgüter und Logistik
1992 und UNOSOM II - Nachschub- und Transportbataillon in Belet Huen, 1993) schuf die
liberal-konservative Bundesregierung Sachzwänge als Vorbereitung für deren
nachträgliche Legitimation durch das Bundesverfassungsgericht. Diese erfolgte im
Nachhinein durch das umstrittene Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
am 12. Juli 1994. In der ersten Hälfte der Neunziger Jahre kritisierten SPD und Bündnis
90/Die Grünen vehement die voran schreitende Aushebelung des Grundgesetzartikels 87a,
wonach der Bund »Streitkräfte zur Verteidigung« aufstellt. Rühe wusste um die zum
damaligen Zeitpunkt klare öffentliche Ablehnung von Out-of-Area-Kampfeinsätzen der
Bundeswehr. So galt es, die militärische Komponente herabzuspielen und zur »flexiblen
Krisen- und Konfliktbewältigung im erweiterten geographischen Umfeld Friedensmissionen
und humanitäre Einsätze« durchzuführen. In den kommenden Jahren folgten die
Bundeswehreinsätze in Bosnien (Tornados in Piacenca zur Informationsbeschaffung für
NATO-Luftschläge 1995), der gestaffelte IFOR-I-Einsatz im ehemaligen Jugoslawien, der
Kroatien-Einsatz (deutsches Kontingent für IFOR I und IFOR II, 1995 und 1996). Die
christlich-liberale Bundesregierung unter Helmut Kohl scheiterte nicht zuletzt ihrer
aggressiven Außen- und Militärpolitik. Im September 1998 wurden SPD und Bündnis 90/Die
Grünen in die Regierungsverantwortung gewählt, auch weil sie ihren Wählern nicht nur
einen Macht-, sondern auch einen Politikwechsel versprochen hatten. In ihrem Wahlprogramm
verkündeten die Grünen, dass sie »die Umstrukturierung der Bundeswehr zu einer
internationalen Interventionsarmee durch den Aufbau von Krisenreaktionskräften und
Offensivwaffen wie den Eurofighter« ablehnen würden.#4 Unter dem sozialdemokratischen
Bundeskanzler Gerhard Schröder hieß die neue Devise »Außenpolitik ist
Friedenspolitik« (Koalitionsvertrag). Es sollte alles anders kommen.
Mit der Zustimmung zum Kosovo-Kampfeinsatz der Bundesluftwaffe legitimierte der Deutsche
Bundestag erstmals einen gleichermaßen grundgesetz- wie völkerrechtswidrigen
Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat. Der gleichsam völkerrechtswidrige
NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien (»Allied Forces« 1999) zementierte das »Primat des
Militärischen« und marginalisierte das »Primat des Zivilen« seitens der UNO. Erst im
Nachhinein erfolgte eine Legitimierung durch die Vereinten Nationen. Auch beim
Einsatz der Bundeswehr in Kabul sind Anti-Terror-Bekämpfung und Hilfsleistungen
untrennbar mit einander verbunden.
Weltweite Interventionen im Namen der Humanität
Die am 21. Mai 2003 vom sozialdemokratischen Bundesverteidigungsminister
Peter Struck erlassenen neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien ersetzen die VPR von
1992.#5 Sie stellen »die verbindliche Grundlage der Arbeiten im Geschäftsbereich des
Bundesministers der Verteidigung« dar.#6
Dass neue Verteidigungspolitische Richtlinien vonnöten gewesen sind, ist unstrittig.
Strittig allerdings ist ihre Ausrichtung. Noch 1998 forderten die Grünen - damals noch
von Dritte-Welt- und Friedensbewegung unterstützt - in ihrem Wahlprogramm: »Die
Verteidigungspolitischen Richtlinien, die die weltweite Verteidigung so genannter
nationaler Interessen vorsehen, sind sofort außer Kraft zu setzen.«#7
Im ersten der acht Kapitel (I bis VIII) der neuen VPR definiert die Bundeswehrführung die
heutige Sicherheitslage, die sich »grundlegend gewandelt« habe. »Neue
sicherheitspolitische Risiken und Chancen verlangen veränderte Fähigkeiten.« (VPR I 1)
Konsequent sollen sich »Auftrag, Aufgaben und Fähigkeiten der Bundeswehr an der zu
erwartenden Sicherheitslage und den sicherheitspolitischen Verpflichtungen Deutschlands
als NATO- und EU-Partner« orientieren.(VPR I 2)
Hatten SPD und Bündnisgrüne die Erweiterung des Bundeswehrauftrags
Anfang der Neunziger Jahre noch strikt abgelehnt, so heißt es heute in den neuen VPR,
diese entsprächen »dem weiten Verständnis von Verteidigung, das sich in den letzten
Jahren herausgebildet« habe.(VPR I 4) In der Tradition Rühes umfasst Verteidigung
im Widerspruch zum Grundgesetzartikel 87a »heute mehr als die herkömmliche
Verteidigung an den Landesgrenzen«. Diese schließe »die Verhütung von Konflikten und
Krisen, die gemeinsame Bewältigung von Krisen und die Krisennachsorge ein.
Dementsprechend lässt sich die Verteidigung geografisch nicht mehr eingrenzen, sondern
trägt zur Wahrung unserer Sicherheit bei, wo immer diese gefährdet ist.« (VPR I 5)
Die neuen VPR geben der Rot-Grünen-Bundesregierung freien Ermessungsspielraum, an jedem
beliebigen Ort der Welt einen Kampfeinsatz der Bundeswehr durchführen zu lassen. Dabei
sind die Entscheidungen der politisch Verantwortlichen uneinheitlich bis unlogisch: So
dürfen deutsche Soldaten nach Kabul und ins Krisengebiet Kundus in Afghanistan sowie nach
Entebbe in Uganda, jedoch (noch) nicht in den von US- und britischen Truppen besetzten
Irak oder nach Bunia im Kongo. Offizielle Legitimation sind Hilfseinsätze verschiedenster
Art, hinter denen sich offensichtlich zuweilen auch handfeste deutsche Sicherheits-,
Militär- und Wirtschaftsinteressen verbergen. Doch wie unter Rühe werden auch heute
sinnvoll klingende Einsatzgründe vorgeschoben: »Vorbeugung und Eindämmung von Krisen
und Konflikten« sowie »Einsätze der Konfliktverhütung und Krisenbewältigung«.(VPR II
10)
Einmal mehr wird in den neuen VPR festgeschrieben, dass »bewaffnete Einsätze der
Bundeswehr mit Ausnahme von Evakuierungs- und Rettungsoperationen nur gemeinsam mit
Verbündeten und Partnern im Rahmen von VN, NATO und EU stattfinden« werden.(VPR II 11).
In der Realität hat die Bundesregierung bereits im Frühjahr 1999 bewiesen, dass sie im
Falle eines Falles auch ohne UN-Mandat völkerrechtswidrig auf militärische und zivile
Einrichtungen schießen lässt: Tausende Menschen starben bei der Bombardierung serbischer
Städte durch NATO-Truppen, darunter Bundeswehreinheiten.
Krieg gegen Terror: Alibi für Aufrüstung
Die menschenverachtenden Terroranschläge vom 11. September 2001 nutzen Verteidigungspolitiker in aller Welt, um die Rüstungsspirale anzuziehen. Wo zuvor abgerüstet werden sollte, wird der Verteidigungshaushalt auf hohem Niveau verstetigt (insb. USA, Russland) oder gar exorbitant gesteigert.
Statt dem internationalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen, versäumt die Politik, die Ursachen des Problems anzugehen. Sie verweist in den neuen VPR darauf, dass »nachfolgende Terroranschläge das Bewusstsein für die asymmetrischen Gefährdungen geschärft« hätten. Diese könnten »jederzeit, an jedem Ort der Welt erfolgen und sich gegen jeden richten. Vornehmlich religiös motivierter Extremismus und Fanatismus, im Verbund mit der weltweiten Reichweite des internationalen Terrorismus bedrohen die Errungenschaften moderner Zivilisationen wie Freiheit und Menschenrechte, Offenheit, Toleranz und Vielfalt.« (VPR III 17 f.)
Zweifelsohne stellt der internationale Terrorismus eine der größten Bedrohungen des Weltfriedens dar. Dabei hat gerade die so genannte »Allianz gegen Terror« ihrerseits Mittel im Anti-Terror-Krieg eingesetzt, die dem Anspruch einer humanitären und menschenrechtsachtenden Friedenspolitik in keiner Weise gerecht wird. An dieser Stelle sei besonders auf die US-geführten Kampfeinsätze in Afghanistan und dem Irak hingewiesen, die mit völkerrechtwidrigen Waffen (uranhaltige DU-Munition, Streubomben, Napalm etc.) geführt worden sind und sich auch gegen die Zivilbevölkerung gerichtet haben.
Unter größter Geheimhaltung haben Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) aus Calw US-Einheiten im Falle des Afghanistan-Kriegs im Anti-Terror-Krieg unterstützt. Und wenn sich die Bundeswehr (bisher) nicht militärisch an der Besetzung des Iraks beteiligt hat, so ging dieser Krieg auch von deutschem Boden aus (Genehmigung der Start- und Überflugsrechte für US-Einheiten, Steuerung durch die militärische US-Schaltzentrale EUCOM bei Stuttgart etc.). Der Erfolg der Kriegseinsätze ist einmal mehr ausgeblieben. Noch immer herrschen in Afghanistan außerhalb von Kabul Warlords und Drogenhändler, im Irak ist mittlerweile ein Guerillakrieg gegen die US-amerikanischen und britischen Besatzer ausgebrochen.
Dort, wo sich Deutschland massiv und durchaus effektiv am Anti-Terror-Kampf beteiligen könnte, bleiben die neuen VPR vage formuliert. »Globale Nichtverbreitungsverträge und Rüstungsexportkontrollen sind zu verbessern«, heißt die bewusst unkonkret gehaltene Vorgabe.(VPR III 22) »Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen in Verbindung mit weitreichenden Trägermitteln kann auch die Bevölkerung und die Länder Europas bedrohen.«(III 20).
Die Proliferation von ABC-Waffen stellt gewiss ein ernst zu nehmendes Problem dar. Dieses ist jedoch nicht durch hochgerüstete Armeen lösbar, sondern durch eine strikte Kontrolle des Transfers, effektiver noch durch die vollständige Vernichtung der eigenen Kapazitäten. Die weltweit größte ABC-Militärmacht stellen die USA dar, die auch nach ihrer Intervention im Irak keine Massenvernichtungswaffen in dem Land gefunden und stattdessen eine Vielzahl von Kriegslügen verbreitet haben.
Bekanntermaßen zählt gerade die Bundesrepublik Deutschland auch unter Rot-Grün zu den weltweit führenden Rüstungsexporteuren. Im Bereich der Transfers und Lizenzvergaben von »Kleinwaffen« ist nach dem Regierungswechsel eine exorbitante Steigerung der Exportquantitäten feststellbar. Dabei ist bekannt, dass neun von zehn Toten auf den weltweiten Schlachtfeldern durch den Einsatz von »Kleinwaffen« zu beklagen sind. Gewehre und Maschinenpistolen der Oberndorfer Waffenschmiede Heckler & Koch zählten und zählen dabei zu den bevorzugten Waffen terroristischer Organisationen: von den Morden der Roten Armee Fraktion (RAF) über die von Terrororganisationen (in Peru oder Palästina) bin zur Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic im März 2003 setzten Terroristen H&K-Waffen ein.
Überhaupt werden an entscheidenden Stellen konkrete Aussagen bewusst vermieden und stattdessen wiederholt allgemeine Bedrohungsszenarien aufgezeigt, die allerdings Zündstoff in sich bergen. So sollen sich »ungelöste politische, ethische, religiöse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Konflikte im Verbund mit dem internationalen Terrorismus, mit der international operierenden Organisierten Kriminalität und den zunehmenden Migrationsbewegungen unmittelbar auf die deutsche und europäische Sicherheit« auswirken.(III 25)
Der Hinweis auf zunehmende Migrationsbewegungen lenkt den Blick eher en passant auf ein zukünftiges Einsatzgebiet von europäischen oder NATO-Streitkräften: Die Festung Europa wird schon heute von einer Armada gesichert, die Nacht für Nacht an den östlichen Binnengrenzen (an der deutschen Ostgrenze durch den Bundesgrenzschutz) bis hin nach Gibraltar Flüchtlinge aufspürt und bestenfalls wieder abschiebt. Nicht selten sterben Migrantinnen und Migranten beim Versuch auf den europäischen Kontinent vorzudringen was von den Medien weitgehend verschwiegen wird.
Hatte Volker Rühe noch die »Aufrechterhaltung des freien Welthandels und
des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt« als Aufgabe der
Bundeswehr angesehen, so lautet die Formulierung bei Peter Struck nunmehr: »Die deutsche
Wirtschaft ist aufgrund ihres hohen Außenhandelsvolumens und der damit verbundenen
besonderen Abhängigkeit von empfindlichen Transportwegen und -mitteln zusätzlich
verwundbar.« (III 27) Was das konkret heißt, lässt der Verteidigungsminister einmal
mehr offen.
In den Passagen, in denen die neuen VPR konkret werden, drohen sie sich auch gleich wieder
selbst zu persiflieren. So wird einerseits die Zusammenarbeit in der »breiten Koalition
gegen den Terror« betont, andererseits bilde das »Völkerrecht und insbesondere die
Charta der VN die Grundlage für das Handeln im Kampf gegen den Terror«.(VPR III 28)
Zweifelsohne kein leichter Spagat für einen Bundesminister der Verteidigung, der - wie sein Kanzler - nach dem Wohlwollen der einzig verbliebenen militärischen Supermacht USA strebt.
Auf der Basis der neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien und im Einklang mit der neuen NATO-Strategie kommen hochprofessionelle Soldaten der Krisenreaktionskräfte und des Kommando Spezialkräfte als schlagkräftige Eingreiftruppe juristisch wie geografisch grenzenlos zum Einsatz. Der Wandel von defensiv orientierten Streitkräften zu »einer Armee im Einsatz« ist vollzogen.(VPR VIII 84)
Die Bundeswehr: zu groß, zu teuer, zu gefährlich
Die allgemeine Finanznot in Deutschland mit einem stetig wachsenden Schuldenberg hat die Streitkräfte nur marginal erfasst. Plant Finanzminister Hans Eichel auch beim Einzelplan 14 Kürzungen vorzunehmen, so werden von Generalinspekteur Schneiderhan bis hin zu Verteidigungsminister Struck gezielt Szenarien an die Wand gemalt, die Truppe arbeite am Rand der Existenz.
Dabei wäre die drastische Reduzierung der Truppenstärke in einem ersten Schritt um 100.000 Mann die sinnvollste Lösung des Finanzproblems. Struck beklagt stattdessen in den VPR, dass »die strukturelle Neuausrichtung und die materielle Modernisierung aufgrund begrenzter Finanzmittel nicht in Übereinstimmung« seien. (VPR V 63) Zugleich unterschlägt er die Tatsache, dass mit dem Eurofighter und dem Transportflugzeug A400M derzeit die teuersten Waffensysteme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beschafft werden.
Gefährlich sind nicht nur die außenpolitischen Machtfantasien im Bundesverteidigungsministerium. Die allerletzte Scheibe in Rühes Salamistrategie wartet noch in den Schubladen: Vereinzelt spielen SPD- und vor allem renommierte CDU-Politiker mit dem Gedanken, die Bundeswehr auch im Inneren einzusetzen. Die Gefahr besteht, dass Strucks neue VPR als Türöffner fungieren werden, Artikel 91 des Grundgesetzes auszuhebeln. Dieser gestattet den Einsatz der Bundeswehr im Inneren »zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitlich demokratische Grundordnung«.
Sackgasse des Militärischen
Dabei ist es mehr als fraglich, ob die Truppe dazu taugt, der »gewachsenen Bedrohung des deutschen Hoheitsgebiets durch terroristische Angriffe« Herr zu werden (insofern diese Bedrohung tatsächlich in der beschriebenen Form bestehen sollte). Und aus demokratischer Sicht ist es ausgesprochen bedenklich, wenn die VPR festschreiben, die Terrorbekämpfung und der Schutz der Bevölkerung würden »zusätzliche Anforderungen an die Bundeswehr bei der Aufgabenwahrnehmung im Inland und demzufolge an ihr Zusammenwirken mit den Innenbehörden des Bundes und der Länder« stellen.(VPR VI 75) Die Grenzen der Gewaltenteilung und der Aufgabenverteilung zwischen Militär und Polizeien werden zusehends verwischt.
Die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen weder den Weg zu - aus rein militärischer Sicht - sinnvollen Reformen, noch zeigen sie Perspektiven eines Erfolg versprechenden zivilen Konfliktlösungsmanagements auf. In der Not versucht sich Verteidigungsminister Struck in der Besitzstandswahrung bei gleichzeitigem Offenhalten aller Optionen. Fassen wir zusammen:
1. Die im Widerspruch zu Artikel 87a des Grundgesetzes stehende Erweiterung des Einsatzgebietes einer zur Verteidigung des deutschen und NATO-Territoriums gegründeten Bundeswehr ist heute zu einer Lizenz zum weltweiten Töten umfunktioniert worden. Die Bundesregierung kann fortan geografisch ungebundene Militärinterventionen anordnen.
2. Das gebetsmühlenartige Wiederholen der Terrorgefahr soll die Notwendigkeit einer starken und optimal ausgerüsteten Truppe aufzeigen, die Schutz vor den Terroranschlägen gewähren könnte was der Realität bisheriger Militäreinsätze diametral entgegensteht. Für Industriegesellschaften wie die Bundesrepublik Deutschland gibt es militärisch keinen hundertprozentigen Schutz. Anschläge auf Atomkraftwerke stellen dabei die größte, aber bei weitem nicht die einzige Existenzbedrohung dar.
3. Trotz der allgemeinen Finanznot und dem damit verbundenen massiven Sozialabbau bei gleichzeitiger Demontage des Gesundheitssystems erhebt der Bundesminister der Verteidigung den nicht im Mindesten nachvollziehbaren Anspruch auf eine 280.000 Mann starke Truppe und die Beschaffung der teuersten Waffensysteme in der deutschen Geschichte. Er erliegt der Macht des militärisch-industriell-politischen Komplexes und macht sich zum Handlager einer profitorientierten Rüstungsindustrie.
4. Mit der bewussten Grenzverwischung zwischen Aufgaben der Polizei, des Bundesgrenzschutzes und der Bundeswehr wird der Einsatz deutscher Soldaten im Inneren vorbereitet.
Insgesamt betrachtet tragen die neuen VPR zur Gewalteskalation, zur Entdemokratisierung und zum Sozialabbau bei und stellen damit das aggressivste und gefährlichste Programm der Bundeswehr nach dem Zweiten Weltkrieg dar.
Viele derer, die der SPD oder den Bündnisgrünen ihre Stimme gaben, erwarteten nach dem Regierungswechsel einen Kurs ernst gemeinter Friedenspolitik und konkrete Schritte zur Abrüstung. Die Chance dazu bestünde bis zum heutigen Tage, was in den Verteidigungspolitischen Richtlinien erfreulich deutlich eingeräumt wird: »Das sicherheitspolitische Umfeld Deutschlands ist durch veränderte Risiken und neue Chancen gekennzeichnet. Eine Gefährdung deutschen Territoriums durch konventionelle Streitkräfte gibt es derzeit und auf absehbare Zeit nicht.« (VPR II 9) Konkret bedeutet dies, dass die Chance zu umfassender Abrüstung und Entmilitarisierung, zu Rüstungs- und Standortkonversion nie größer war als heute. Doch die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien weisen den Weg in die entgegensetzte Richtung.
Friedenspolitische Richtlinien
Krieg muss als Mittel der Politik geächtet und das Völkerrecht als einziges legitimes Instrument zur Regelung zwischenstaatlicher Konflikte gestärkt und weiterentwickelt werden. Gewaltsame Konfliktaustragung muss durch aktive Krisenprävention und zivile Konfliktbearbeitung ersetzt werden. Voraussetzung dafür ist die Beseitigung von Kriegsursachen und -folgen (Armut, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung). Menschenrechte und Demokratie müssen weltweit mit den Mitteln der Gewaltfreiheit umgesetzt und verteidigt werden - so die berechtigten Forderungen der Kooperation für den Frieden, einem bundesweiten Verband reputierter Friedensorganisationen.
Einen optimalen Ansatzpunkt böten Friedenspolitische Richtlinien (FPR), an deren Formulierung sich auch die Deutsche Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen im Rahmen der Kooperation für den Frieden beteiligt.#8 Diese Richtlinien sollten unter anderem folgende Schritte zur Abrüstung enthalten:
* die verstetigte Senkung des Rüstungshaushaltes um mindestens fünf Prozent pro Jahr zur Finanzierung von Friedensinstitutionen (Friedensforschung und -politik) und Zivilen Friedensdiensten, der Waffenverschrottung sowie der deutlichen Aufstockung des Entwicklungshilfeetats und der zivilen Katastrophenhilfe;
* die Gründung eines Amtes für Abrüstung, Konversion und Zivile Friedensdienste zur Organisation des Friedensprozesses;
* die drastische Verkleinerung der Bundeswehr, beginnend mit der Auflösung der Militäreinheiten, die den Militärinterventionen dienen (KRK, KSK); die Umschulung der Soldaten, denn Auslandseinsätze der Bundeswehr sollten allenfalls sinnvollen Maßnahmen dienen, beispielsweise der Überwachung von Wahlen oder dem Minenräumen;
* der Entwicklungs- und Produktionsstopp neuer Großwaffensysteme und Verzicht auf die geplanten Beschaffung weiterer Lose offensiv orientierter Waffen;
* der Stopp aller Rüstungsexporte und Lizenzvergaben, um Scheindemokraten, Diktatoren und Terrorgruppen letztlich die Waffen zu entziehen;
* der Abzug aller Atomwaffen aus Deutschland;
* die Mitwirkung an der Schaffung einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, die Menschen nicht länger dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen und u.a. nach Europa zu fliehen.
Jürgen Grässlin ist Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK). Als Autor verfasste er mehrere Bücher über die Bundeswehr und die Rüstungsindustrie. Seine Managerbiografien über Jürgen E. Schrempp und Ferdinand Piëch wurden Bestseller und in mehrere Sprachen übersetzt. In seinem aktuellen Buch »Versteck dich, wenn sie schießen. Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr« biografiert Grässlin Opfer deutscher Rüstungsexporte.
Quellenangaben
#1 Verteidigungspolitische Richtlinien (VPR) vom 26.11.1992, Punkt 18; zitiert nach: Grässlin, Jürgen: »Lizenz zum Töten. Wie die Bundeswehr zur internationalen Eingreiftruppe gemacht wird«. München, 1997, S. 362
#2 a.a.O., S. 361, VPR vom 26.11.1992, Punkt 8
#3 a.a.O., S. 363, VPR vom 26.11.1992, Punkt 48
#4 Bündnis 90/Die Grünen: Programm zur Bundestagswahl 98. Grün ist der Wechsel. Bonn 1998, S. 146
#5 Bundesministerium der Verteidigung (BMVg): Verteidigungspolitische Richtlinien, erlassen von Dr. Peter Struck, Bundesminister der Verteidigung; BMVg, Berlin, 21.05.2003
#6 VPR vom 21.05.2003, Punkt 8
#7 Bündnis 90/Die Grünen: Programm zur Bundestagswahl 98, a.a.O., S. 147
#8 weitere Informationen hierzu: DFG-VK, Velbert, (www.dfg-vk.de, www.schritte-zur-abruestung.de); RüstungsInformationsBüro RIB e.V., Freiburg (www.rib-ev.de); Kooperation für den Frieden, c/o Aktionsgemeinschaft Dienst für Frieden e.V. Bonn (www.friedensdienst.de).
Entwicklungspolitik epd, September 2003, S. 33 ff.
In May 2003, the German Federal Minister of Defence, Peter Struck, presented Germanys new Defence Policy Guidelines. These guidelines are to take account of a security situation that has changed fundamentally. According to Jürgen Grässlin, they represent the most aggressive and most dangerous Bundeswehr programme since World War II. The author points out that these new guidelines mark the transformation of the German armed forces established according to Article 87a of the Basic Law for purposes of defence into an army flexible enough to carry out military interventions anywhere in the world. The war against terror is being used by defence politicians to increase military spending, at a time when social security is being cut down because of financial constraints. As admitted in the new Defence Policy Guidelines, there is at present, and in the foreseeable future, no conventional threat to the German territory. The author therefore proposes peace policy guidelines to make use of this unprecedented opportunity to demilitarise and disarm.