TITISEE-NEUSTADT. Der Freiburger Friedensaktivist und Rüstungsgegner Jürgen Grässlin hat sich mit seinem neuen Buch »Das Daimler-Desaster« nicht nur Freunde gemacht, sondern wird angefeindet und ist damit in die Schlagzeilen geraten. »Es ist nicht nur ein Wirtschaftskrimi. Es ist ein Aufruf umzudenken«, sagte der Kritiker am Donnerstagabend in einer Lesung mit anschließender Diskussion im Buchladen im Roten Haus. Grässlin war auf Einladung der Erwachsenenbildung Hochschwarzwald zusammen mit der Buchhandlung und dem Krone Theater nach Neustadt gekommen.
»In meinem Buch kritisiere ich alle vier großen Parteien wegen der Parteispenden und der damit verbundenen Abhängigkeit«, sagt Grässlin. Die Aussagen des Freiburgers über haarsträubende Missstände im Daimler-Chrysler-Management haben den Automobilhersteller, der laut Grässlin »nicht nur große Autos, sondern auch große Waffen herstellt«, in Verlegenheit gebracht. Deshalb versucht der Konzern einige Aussagen in Grässlins Bestseller und dessen Lesungen mit juristischen und mit weniger vornehmen Mitteln zu verhindern. So musste, legt Grässlin dar, erst im Januar eine Lesung in einer namhaften Buchhandlung Baden-Württembergs abgesagt werden, weil das Geschäft in wirtschaftlicher Abhängigkeit zu DaimlerChrysler stehe. Buchhändlerin Sybille Steinweg wurde von derlei Schwierigkeiten nicht berührt, die Veranstaltung konnte plangemäß beginnen. Vor nur 14 Interessierten erzählt und liest der unermüdlich scheinende Friedenspolitiker neben seinem neuen Werk auch aus seinem Buch »Versteck dich, wenn sie schießen!«. Es ist die authentische Geschichte von Samiira aus Somaliland und Hayrettin aus Kurdistan, zwei zivilen Opfern, die in unterschiedlichen Bürgerkriegen von einem deutschen Maschinengewehr verletzt wurden. Das G3, ursprünglich Standardwaffe der Bundeswehr, hergestellt vom Oberndorfer Traditionsunternehmen Heckler & Koch, findet man nach Grässlins Untersuchungen inzwischen weltweit in den Händen von (Kinder-)Soldaten, Terroristen oder Rebellen. »Heckler & Koch ist der größte Kleinwaffenhersteller Deutschlands, DaimlerChrysler der größte Großwaffenhersteller«, klagt Grässlin an. Das Ziel seiner Arbeit ist klar: »Ich will die Konsumenten aufrütteln, ich will, dass die Verbraucher vor dem Kauf eines Autos genau überlegen, bei wem sie kaufen und wen sie mit ihrem Geld unterstützten.« Die Veranstalter zeigten sich über den geringen Andrang wenig überrascht. Martin Höfflin, evangelischer Diakon, begrüßte das Publikum im Namen der evangelisch und katholischen Erwachsenenbildung: »Wir sind mehr Besucher als Veranstalter, das ist gut.« Trotz des ernsten und traurigen politischen Themas ist die Stimmung im Saal zunächst humorvoll. Grässlin erscheint nicht so, wie es das Klischee eines Friedensaktivisten vielleicht vermuten lassen könnte: langhaarig und im selbst gestrickten Wollpullover. Vor dem aufmerksamen Hörer sitzt stattdessen ein Mann im Jackett, selbst Vater zweier erwachsener Kinder. Doch sein Enthusiasmus, als er aus seinen Werken mehr frei erzählt als vorliest, springt auf das Publikum über. Der Idealismus des Autors scheint ungebrochen: »Ich ziehe meine Kraft weiterzumachen aus den Ländern, die ich besuche, und von den Menschen, die ich dort kennen lerne und denen ich zu helfen versuche. Bei meiner Rückkehr nach Deutschland bin ich voller Energie«, berichtet er. »Die Armut dieser Länder ist unvorstellbar groß. In der Regel gibt es kein fließendes Wasser, keine Toiletten, keine Ärzte, kaum Geschäfte.« Und doch ist Grässlin überzeugt: »Die meisten Menschen in Somaliland leben viel glücklicher als wir hier in Deutschland. Sie sind mit dem Wenigen zufrieden, das sie haben.« Grässlin zeigt schockierende Fotos von Opfern der Bürgerkriege in Türkisch-Kurdistan und in Somaliland. Die Zuschauer bekommen einen tiefen Einblick in die Grausamkeit des Kriegs. Immer wieder ist ein erschüttertes Raunen während Grässlins Ausführungen zu vernehmen. Im Anschluss an die Lesung bietet Grässlin eine Diskussionsrunde an, die von Frauen und Männer im Raum rege angenommen wird. Kriegserinnerungen eines Besuchers brechen auf, er erzählt sehr emotional und offen über Fronterlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Der Neustädter stellt folglich seine persönliche These auf: »Der Streit über die Herkunft der Waffen ist zweitrangig. Wichtiger ist die Frage über die Ursache des Kriegs. Wenn keiner mehr Waffen bräuchte, würde Heckler & Koch eben Küchenmaschinen herstellen.« Ein junger Mann äußert Unzufriedenheit über die aus seiner Sicht schikanöse Behandlung Grässlins. Die Veranstalter zeigen sich am Ende betroffen über das Gehörte, doch erleichtert über das Echo des Publikums. So schließt Höfflin die Runde: »Aus der Aussage ,Kleine Waffen, große Wirkung' wurde heute das Motto ,Kleine Gruppe, große Wirkung'«. Marion Pfordt