Von PETRA WALHEIM
Jürgen Grässlin legt sich seit Jahrzehnten mit der Rüstungsindustrie an. Der Freiburger hat Bestseller geschrieben und startet nun eine neue Kampagne. Am 1. September erhält er den Aachener Friedenspreis.
Der Mann strotzt vor Energie. Obwohl er seit 27 Jahren jede Nacht nur viereinhalb Stunden schläft und unermüdlich arbeitet, sieht Jürgen Grässlin aus wie das blühende Leben. Er strahlt und lacht, verbreitet mit seinem Humor Fröhlichkeit und Optimismus. Das Thema, das ihn umtreibt, ist jedoch nicht lustig. Grässlin geht mit Vorträgen, Aktionen, Kampagnen und Büchern vehement gegen die Rüstungsindustrie vor und dagegen, dass in Deutschland produzierte Waffen in Kriegs- und Krisengebiete exportiert werden. Dabei hat er viele Mitstreiter. Stellvertretend für alle Friedensaktivisten und Rüstungsgegner nimmt Jürgen Grässlin am 1. September, dem Antikriegstag, den Aachener Friedenspreis entgegen.
Zweiter Preisträger ist die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen. IMI ist ein gemeinnütziger Verein, der sich gegen die Militarisierung der Gesellschaft wendet. Er liefert der Friedensbewegung Hintergrundinformationen, Analysen und Einschätzungen.
Grässlins Arbeitszimmer spricht Bände: rechts ein Regal, vollgestopft mit unzähligen Ordnern. »Das sind die Unterlagen für die Schule.« Der 53-Jährige ist Lehrer mit vollem Deputat in der Freiburger Lessing-Realschule, ein Beamter auf Lebenszeit. Bisher hat er wegen seiner Aktionen gegen die Rüstungsindustrie mit seinem Arbeitgeber keinen Ärger bekommen. »Ich bin überzeugter Demokrat und versuche, den Kindern in der Schule zu vermitteln, was das heißt: ihre eigene Meinung zu finden und gut begründen zu können.« Er ist ein entschiedener Gegner von Computer-Killerspielen. Einer seiner Vorträge heißt »Krieg in Kinderköpfen«. Dazu hat er ein ergebnisoffenes Rollenspiel für den Unterricht entwickelt. »Erfreulicherweise zeigt sich immer wieder, dass auch Kinder diese Spiele ablehnen.«
Auf der linken Seite seines Arbeitszimmers stapeln sich die Bücher, die er geschrieben hat. Acht sind es bisher, zudem viele Übersetzungen. Seine Biographie über Jürgen Schrempp, den früheren Vorstandschef von DaimlerChrysler, ist ein internationaler Bestseller. Das »Daimler-Desaster« erreichte in den vier Listen der deutschen Wirtschafts-Bestseller jeweils Platz 1. Er stellt darin auch dar, inwieweit Daimler/EADS an der Entwicklung von Waffensystemen und an Rüstungsexporten in menschenrechtsverletzende und kriegführende Staaten beteiligt ist.
Zwischen den Regalen liegen Unmengen Informationsmaterial: Militaria-Zeitschriften, Söldner-Magazine, Zeitungsausschnitte, Papiere. »Wir werten jeden Tag zehn Tageszeitungen aus.« Das sind nur einige Quellen, aus denen Grässlin sein umfangreiches Wissen über die Rüstungsindustrie schöpft. Vieles fließt in das Archiv des Rüstungs-Informations-Büros ein, das er mitgegründet hat: »das größte Archiv der Friedens- und Menschenrechtsbewegung zum Waffenhandel in Deutschland. Das ist ein Fundus ohnegleichen«, betont er und sagt gleich dazu, dass er nur Kopien im Haus hat. »Einbrechen lohnt nicht«.
Seine Tage und die halben Nächte verbringt der Vater zweier Kinder zurzeit in seinem »Kreativzimmer«. Dort malt er Porträts: Jim Morrison, Martin Luther King und Bertha von Suttner schmücken die Wände des Hauses.
[siehe Foto: JG und Portrait Schrempp]
Und er schreibt an einem neuen Buch: Es handelt von den neuesten Waffenentwicklungen, von den »Tätern« in Industrie und Politik, und es lässt Menschen zu Wort kommen, die durch deutsche Waffen verletzt und traumatisiert wurden. »Ich will den Opfern eine Stimme geben«, sagt Grässlin. Das treibt ihn an.
Seit Jahren reist er in die Länder, die von Deutschland aus mit Waffen beliefert werden und spricht dort mit den Opfern. Was er zu hören bekommt, ist oft schwer auszuhalten. »Meine Form der Verarbeitung ist das Schreiben«, sagt er. Gerade hat er mit über 100 Nichtregierungs-Organisationen aus der Friedens- und Entwicklungsarbeit, mit kirchlichen und gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden eine bundesweite Kampagne gestartet: »Aktion Aufschrei - Stoppt den Waffenhandel!«. Damit hat er den Widerstand auf eine einmalige breite Basis gestellt. Er ist Sprecher mehrerer Friedensorganisationen, auch der größten: der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK).
Immer wieder ist er in Oberndorf anzutreffen. In dem beschaulichen Städtchen am Neckar im Kreis Rottweil sitzt die Firma Heckler & Koch, »der größte Hersteller von Pistolen und Gewehren in Europa«, sagt Grässlin. Das Unternehmen beschäftigt rund 700 Mitarbeiter. Seiner Ansicht nach machen sich die verantwortlichen Manager der »Beihilfe zum Massenmord« mitschuldig. Nach Grässlins Recherchen sind mit H&K-Waffen nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit mehr als 1,5 Millionen Menschen getötet worden. Wenn er mit seinen Infoblättern, mit denen er aufklären möchte, am Werkstor steht, ist er nicht willkommen. Doch das kümmert ihn nicht, auch nicht die Drohung mit einer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs. Im Gegenteil. Er fürchtet sich nicht vor Gerichtsprozessen. Bislang hat er gegen alle, die ihn verklagt haben, gewonnen. Der Mann recherchiert seine Informationen akribisch, bevor er mit ihnen an die Öffentlichkeit geht.
Es ist kaum zu glauben, aber Jürgen Grässlin wollte den Wehrdienst ableisten. »Das klappte nur ein paar Tage«, erzählt er. Als es darum ging, auf Zielscheiben in Menschenform zu schießen, weigerte er sich. Er wurde in den Innendienst versetzt. »Ich wollte aber auch keine Archiv-Kisten schleppen, sondern über die Gefahren des Kalten Kriegs diskutieren«, sagt er. Er wurde als dienstuntauglich eingestuft und entlassen.
Als jungem Lehrer wurde ihm klar: »Wir müssen aktiv unseren Teil dazu beitragen, dass unsere Welt gerechter wird.« Seit 27 Jahren ist er unermüdlich dabei aufzuklären. »Jetzt ist Halbzeit« sagt er.