Artikel »Konzerne müssen einstecken können.
Der Bundesgerichtshof stärkt Kritiker von Unternehmen.
Daimler verliert gegen Schrempp-Kontrahent Jürgen Grässlin«
in Süddeutsche Zeitung vom 23.09.2009


Konzerne müssen einstecken können

Der Bundesgerichtshof stärkt Kritiker von Unternehmen.
Daimler verliert gegen Schrempp-Kontrahent Jürgen Grässlin

Von Helmut Kerscher

Karlsruhe - Der Bundesgerichtshof (BGH) hat Kritiker von Konzernen und deren Verantwortlichen nachhaltig gestärkt. Wegen des großen öffentlichen Interesses an Vorgängen aus dem Wirtschaftsleben und insbesondere an Großunternehmen müssten die Grenzen zulässiger Kritik weit gesteckt werden, hieß es. Der BGH wies Unterlassungsklagen des Daimler- Konzerns und seines früheren Chefs Jürgen Schrempp gegen ihren Kritiker Jürgen Grässlin zurück. Bei einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz der Kläger und der Meinungsfreiheit des Kritikers habe Letztere gesiegt, sagte Richter Gregor Galke. Gerade für aktuelle Äußerungen müssten »großzügige Spielräume« gelten, weil andernfalls die Diskussion über Ereignisse von besonderem Öffentlichkeitswert verfassungswidrig erschwert werde.

Anlass des Prozesses waren Äußerungen von Grässlin am 28. Juli 2005 in der »Landesschau« des Südwestrundfunks. An diesem Tag hatte der Daimler-Konzern gemeldet, dass sein Vorstandsvorsitzender Jürgen Schrempp zum 31. Dezember 2005 aus dem Unternehmen ausscheide. Der als Schrempp-Biograph und Sprecher der »Kritischen AktionärInnen Daimler« bekannt gewordene Grässlin sagte dazu in einem Live-Interview unter anderem: »Ich glaube nicht, dass der Rücktritt [Aussage für mich – trotz des positiven BGH-Urteils – erst dann wiederholbar, wenn auch die Hamburger Justiz ihre Urteile aufgehoben hat!] war. Ich glaube, dass er dazu gedrängt und genötigt wurde . . . und das muss damit zusammenhängen, dass die Geschäfte nicht immer so [Hamburger Justizoase!] waren, die Herr Schrempp geregelt hat.«

Unterlassungsklagen von Schrempp und Daimler waren zunächst sowohl vor dem Landgericht als auch dem Oberlandesgericht Hamburg (OLG) erfolgreich. Dagegen wehrte sich der jetzt 52- jährige Buchautor und Realschullehrer Grässlin, der den Daimler-Konzern insbesondere wegen dessen Einbindung in die Rüstungsproduktion über die EADS-Beteiligung angreift und auch in Prozesse mit dem Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche verwickelt ist.

In der vom BGH zugelassenen Revision berief sich Grässlin auf die Meinungsfreiheit, seine Gegner sahen ihre Persönlichkeitsrechte als verletzt an. In der Verhandlung machte Grässlin-Anwalt Wendt Nassall geltend, es habe sich um einen spontanen Meinungsbeitrag mit relativierenden Zusätzen wie »Ich kann nur mutmaßen« gehandelt. Rechtsanwältin Cornelie von Gierke argumentierte, die Schnelligkeit einer Äußerung entbinde nicht von der Sorgfaltspflicht. Grässlin habe seine »ehrenrührige Tatsachenbehauptung« nicht beweisen können.

Dem BGH-Urteil zufolge sind die angegriffenen Bemerkungen Grässlins nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als wertende Meinungsäußerungen einzuordnen. Die Aussagen dürften nicht isoliert, sondern im Gesamtzusammenhang des Interviews bewertet werden. Demnach handele es sich bei den Vermutungen sowohl über den vorzeitigen Rücktritt als auch über die Geschäftstätigkeit Schrempps um Werturteile, entschied der BGH. Es handele sich auch nicht um eine unzulässige Schmähkritik, weil sich Grässlin zu einem Sachthema von erheblichem öffentlichen Interesse geäußert und die Herabsetzung Schrempps nicht im Vordergrund gestanden habe.

Anders als die beiden Hamburger Gerichte, die für ihre strenge Linie bekannt sind und wohl deshalb von den Klägern ausgesucht wurden, betonte der Pressesenat unter seinem neuen Vorsitzenden Galke den Rang der Meinungsfreiheit. An der Bewertung der Geschäftstätigkeit des Vorstandsvorsitzenden eines Großunternehmens und dessen vorzeitigem Rücktritt bestehe ein großes öffentliches Interesse, hieß es. (Az: VI ZR 19/08)

Der siegreiche Grässlin, der an der Verhandlung und an der Verkündung teilgenommen hatte, zeigte sich sehr erleichtert. Zum einen habe der BGH dem ständigen Abbau von Bürgerrechten entgegengewirkt, ferner hätten sich seine bisherigen Prozesskosten von etwa 70 000 Euro in vier Jahren nun etwa halbiert. Grässlin war auch mehrmals vom amtierenden Daimler-Chef Dieter Zetsche verklagt worden. In einem Prozess wegen früherer Zeugenaussagen Zetsches bekam dieser zwar nicht das verlangte Schmerzensgeld zugesprochen. Grässlin wurde aber zur Unterlassung und zur Zahlung von Ordnungsgeldern verurteilt. Zetsche hatte geklagt, weil er sich massiv und hartnäckig mit ehren-rührigen Tatsachenbehauptungen konfrontiert sah. Ähnlich wie jetzt der BGH hatte das Landgericht Hamburg im Januar betont, dass sich der Vorstandsvorsitzende eines der größten deutschen Unternehmen Kritik in weitaus höherem Maß gefallen lassen müsse als andere.

Von den Büchern Grässlins wurden das »Daimler-Desaster« sowie Biographien über Schrempp und Ferdinand Piëch bekannt. Grässlin ist auch Gründer des »Aktionsnetzes Kleinwaffen stoppen«. Er bekommt im November den mit 4000 Euro dotierten »Preis für Zivilcourage« der Solbach-Freise-Stiftung.

Bildunterschrift: Der frühere Daimler-Vorstandschef Jürgen Schrempp fühlte sich durch Aussagen des kritischen Aktionärs Jürgen Grässlin in seiner Ehre verletzt und hatte zunächst eine Unterlassungsklage gewonnen.