VON EVA BEHRENDT
Endlich ist es soweit: Um 15.30 Uhr darf Herr Stockhausen seine fünf Minuten Redezeit wahrnehmen. Das Publikum ist schon stark ausgedünnt, aber gespannt. Schließlich hat sich der Kleinaktionär mit der Baseballkappe trotz Rausschmissdrohungen auf dieser Daimler Hauptversammlung als permanent störendes Rumpelstilzchen gebärdet. Jetzt entfaltet er auf dem Höhepunkt seines wirren, aber flammenden Appells ein medi&zini-Poster, auf dem ein Affenbaby mit traurigen Augen zu sehen ist. Großes Gelächter.
Der Aufsichtsratsvorsitzende Manfred Bischoff hatte eingangs erklärt: »Das ist hier weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück«, sondern »die Eigentümerversammlung eines der bedeutendsten industriellen Unternehmen unseres Landes«. Das klarzustellen war offenbar nötig. Nicht so sehr wegen Herrn Stockhausen, sondern weil das Regiekollektiv Rimini Protokoll pünktlich zur Finanzkrise die geniale Idee hatte, die HV 2009 als Readymade mit dem Titel »Hauptversammlung« zu deklarieren und rund 150 Zuschauern, darunter gut zwei Dutzend Kulturjournalisten, durch Überschreibung von Aktienstimmrechten Zutritt zu verschaffen.
Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel haben zwar in einem Katalog Hintergrundinformationen zusammengetragen, aber nicht in den Veranstaltungsablauf eingegriffen: Ihr künstlerischer Akt besteht allein in der Verschiebung der Perspektive, durch die sie »die Selbstpräsentation eines Global Players« nicht »als Show denunzieren«, sondern »als Ritual einer Versammlung unterschiedlicher Interessen erfahrbar« machen wollen. Das gelingt meisterlich, indem sie den Zuschauer weitgehend sich selbst überlassen und nur in »Nischengesprächen« mit Experten Vertiefung anbieten.
Anders als die meisten der rund 6000 Menschen, die ins Berliner Messezentrum strömen, besitze ich keine einzige Daimler-Aktie. Vor dem Eingang demonstrieren Gewerkschafter und Umweltschützer, in den Fluren des ICC geht es zu wie auf Butterfahrt: Scharen von Rentnern futtern Gratis-Croissants und sitzen in ausgestellten Automobilen Probe. Sie alle dürfen hier über die »Entlastung«, das heißt den Verzicht auf Regressforderungen an Vorstand und Aufsichtsrat sowie künftigen Kapitaleinsatz abstimmen. Theoretisch. Praktisch besitzen Banken, Emirate, Fondsgesellschaften die größten Stimmanteile - wobei kein Anteilseigener so groß ist, dass er dem Vorstand ernsthaft auf die Finger klopfen könnte. Auch an diesem Abend erfolgt die Entlastung mit sozialistischem Ergebnis von fast 100 Prozent.
Jetzt ist es erst kurz vor zehn, und Hebbel-Chef Matthias Lilienthal sagt im Vorübergehen: »Die nächsten drei Stunden werden so spannend wie eine buddhistische Zen-Übung.« Wie oft kündigt ein Intendant seine Produktion so an? Tatsächlich trägt der Vorstandsvorsitzende Dieter Zetsche den Geschäftsbericht derart gekonnt einschläfernd vor, dass das Ausmaß der Krise fast aus dem Blick gerät. Zeit, das Bühnenbild zu mustern: Vor monumentaler Rückwand mit Firmenlogo sitzen Vorstand und Aufsichtsrat an massiven Tischen. Dass es nur eine Frau in diese Gremien geschafft hat, wird später noch von drei der ebenfalls unterrepräsentierten Aktionärinnen bemängelt. Und ist es Zufall, dass die beiden Daimler-Protagonisten große Walrossbärte tragen?
Vier Prozent Umsatzeinbuße musste Daimler im letzten Jahr hinnehmen. Statt 2 Euro beträgt die Dividende diesmal nur 60 Cent. Die Folge ist ein rigider Sparkurs, der die Gehälter der Belegschaft und sogar des Vorstands betrifft. Entlassungen schließt Zetsche »ehrlicherweise« nicht aus.
Der Preis der Selbstdarstellung als transparente, kritikfähige Unternehmensführung: Viele Stunden lang müssen Vorstand und Aufsichtsrat jetzt Kritik und Nachfragen aussitzen, Tenor: Nicht nur die Krise ist schuld, auch die Führung hat Fehler gemacht, zu wenig auf Kleinwagen, zu spät auf Umweltschutz gesetzt. Vor allem die ersten Beiträge sind rhetorisch geschliffen und machen Spaß. Umso grauer klingen die abmoderierenden Antworten, die dem Vorstand aus hinteren Reihen zum Vorlesen gereicht werden. Überraschung: Nicht nur Aktivisten wie der Freiburger »kritische Aktionär« Jürgen Grässlin werfen dem auch in der Rüstungsindustrie engagierten Konzern ethisches Versagen vor, auch die profitorientierten Fondsgesellschaften klagen moralische und soziale Positionen ein. Logisch - wenn auch reiche Menschen für Umweltschutz eintreten und Waffenproduktion oder nach oben offene Boni ablehnen, wäre die entgegengesetzte Haltung langfristig unrentabel.
Je später der Nachmittag, desto schräger die Beiträge. Ein vor Aufregung zitternder Mann fleht Zetsche an, ihn mit der Entwicklung eines revolutionären Freikolbenmotors zu betrauen. Bei aller komischen Rührung, die sich im Zuschauerraum breit macht: Ist das Theater? Was hat die Betrachtung der HV als Inszenierung gebracht - und können nicht auch Theaterlaien Sein von Schein unterscheiden? Als BWL-Laie ohne Aktien habe ich jedenfalls meine Interessen als Zuschauer voll vertreten können, viel gelernt und mich blendend unterhalten. Mit Aktien wäre es mir vielleicht wie der Anlegerin gegangen, deren Altersvorsorge sich drastisch reduziert hat. Ihr wütendes Statement: »Das ist vielleicht ein Affenzirkus!«
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