Zeitungsbericht »Richter bremsen Daimler aus.
BGH weist Unterlassungsklage gegen Konzernkritiker Grässlin ab«
in der Südwestpresse vom 23.09.2009



Richter bremsen Daimler aus

BGH weist Unterlassungsklage
gegen Konzernkritiker Grässlin ab

Daimler wollte einen seiner schärfsten Kritiker mit Unterlassungsklagen zum Schweigen bringen: Bestseller-Autor Jürgen Grässlin. Vor dem Bundesgerichtshof ist der Konzern gestern gescheitert.

ANDREAS ELLINGER

Der Rechtsstreit um seine Meinungsfreiheit hat Jürgen Grässlin rund 70 000 Euro gekostet, wie er sagt. Der Autor von Werken wie »Das Daimler-Desaster« ist Sprecher der »Kritischen Aktionäre Daimler«. Nicht wegen seiner Bücher, sondern vorwiegend wegen Interview-Aussagen hatten die Daimler AG, ihr Ex-Boss Jürgen E. Schrempp und ihr heutiger Vorstands-Chef Dieter Zetsche wiederholt auf Unterlassung geklagt. Gerichte in Berlin und Hamburg haben fast ausschließlich zu Gunsten der Persönlichkeitsrechte von Zetsche und Schrempp entschieden. Ein Teil der Urteile ist rechtskräftig.
In einem Fall ist Grässlin hingegen den kostspieligen Weg durch die Instanzen gegangen, der gestern - nach Niederlagen vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht (OLG) in Hamburg - mit einem Sieg vor dem Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe endete.

[Foto JG]

Es ging um ein Interview in der SWR-Landesschau am 28. Juli 2005, nachdem Schrempp an diesem Tag als Vorstandsvorsitzender zurückgetreten war. Jürgen Grässlin, der über den »Herr der Sterne« eine Biografie geschrieben hat, sagte: »Ich glaube nicht, dass der Rücktritt […] war. Ich glaube, dass er dazu immer [Aussage für mich – trotz des positiven BGH-Urteils – erst dann wiederholbar, wenn auch die Hamburger Justiz ihre Urteile aufgehoben hat!] wurde . . . und das muss damit zusammenhängen, dass die Geschäfte nicht immer so immer […] waren, die Herr Schrempp geregelt hat.« Daimler und sein Ex-Boss klagten gegen Grässlin - weil es sich um falsche Tatsachenbehauptungen handle, wie Rechtsanwältin Cornelie von Gierke gestern ausführte.

Der BGH schloss sich dagegen der Auffassung von Grässlin-Anwalt Dr. Wendt Nassall an, die Aussagen müssten im Gesamtzusammenhang des Interviews gesehen werden. Grässlin hatte das Statement mit der Bemerkung »jetzt muss man mutmaßen« eingeleitet. Der BGH kam zu dem Ergebnis, die Aussagen seien vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt - und auch darüber hinaus sei die Rechtsauffassung des OLG Hamburg fehlerhaft: »Der erste Teil der Äußerung war entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Werturteil einzustufen. Beim zweiten Teil handelt es sich auch nicht um unzulässige Schmähkritik, weil sich der Beklagte zu einem Sachthema von erheblichem öffentlichen Interesse äußerte« und nicht die Herabsetzung von Schrempp im Vordergrund gestanden habe.

»Bei der danach gebotenen Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsschutz der Kläger und dem Grundrecht des Beklagten auf freie Meinungsäußerung musste der Persönlichkeitsschutz der Kläger im vorliegenden Fall zurücktreten. An der Bewertung der Geschäftstätigkeit des Vorstandsvorsitzenden eines Großunternehmens und dessen vorzeitigem Rücktritt besteht ein großes öffentliches Interesse. Demgemäß müssen die Grenzen zulässiger Kritik gegenüber einem solchen Unternehmen und seinen Führungskräften weiter sein.«

Der Tübinger Rechtsanwalt Holger Rothbauer, der Grässlin in den Vorinstanzen vertreten hatte: »Das ist ein wegweisendes Urteil im Äußerungs-Recht - insbesondere für Konzern-Kritiker, Journalisten und Autoren.« Der BGH habe mit seiner Entscheidung »die Rechtsprechung der Elfenbeinturm-Justiz in Hamburg zu Gunsten der Prominenten dieses Landes deutlich in die Schranken gewiesen.«

Die Pressekammer des Landgerichts Hamburg hat den Ruf, den Schutz der Persönlichkeitsrechte auf Kosten der Meinungsfreiheit hoch zu bewerten. Wie Grässlin vor dem OLG angemerkt hatte, soll ein Daimler-Anwalt nach Fehlversuchen in Köln und München erst in Hamburg ein Gericht gefunden haben, das seine Rechtsauffassung teilte.

Der Konzern konnte sich bundesweit ein Gericht aussuchen, weil das SWR-Fernsehen überall zu empfangen ist. Ein Unternehmens-Sprecher teilte gestern mit, Daimler bedauere das BGH-Urteil und werde es »genau prüfen«.