Bundesgerichtshof entscheidet gegen Schrempp und Daimler. Unterlassungsklage gegen Sprecher der kritischen Aktionäre abgelehnt
Meinungsfreiheit gilt auch für Kritische Aktionäre. Dies entschied der Bundesgerichtshof (BGH) am Dienstag in Karlsruhe. Damit blieb die Klage des Daimler-Konzerns gegen den Sprecher der Kritischen Aktionäre, Jürgen Grässlin, wegen dessen Äußerungen zum einstigen Konzernchef Jürgen Schrempp erfolglos. Grässlin hatte dem SWR 2005 gesagt, der Unternehmenschef sei zum Rücktritt »[Aussage für mich – trotz des positiven BGH-Urteils – erst dann wiederholbar, wenn auch die Hamburger Justiz ihre Urteile aufgehoben hat!]« worden, »und das muß damit zusammenhängen, daß die Geschäfte nicht immer so […] waren, die Herr Schrempp geregelt hat«. Die Äußerungen fielen am Abend des 28. Juli 2005 in der SWR-Landesschau. Wenige Stunden zuvor hatte Daimler den Beschluß des Aufsichtsrats gemeldet, daß Schrempp zum 31. Dezember 2005 aus dem Unternehmen ausscheide.
Die Daimler AG und Schrempp wollten Grässlin daraufhin dessen Äußerungen verbieten lassen. Die Unterlassungsklage war vor dem Hamburger Landgericht und dem Hanseatischen Oberlandesgericht (OLG) erfolgreich. Der BGH wies nun jedoch in letzter Instanz die Klage ab. Die Äußerungen Grässlins müßten im Gesamtzusammenhang des Interviews gewertet werden. Sie seien durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt.
Der erste Teil der Äußerung sei entgegen der Auffassung des OLG nicht als Tatsachenbehauptung, sondern als Werturteil einzustufen. Beim zweiten Teil handele es sich auch nicht um unzulässige Schmähkritik, weil sich Grässlin zu einem »Sachthema von erheblichem öffentlichen Interesse äußerte« und dabei nicht die Herabsetzung Schrempps im Vordergrund stand.
Laut BGH besteht an der Bewertung der Geschäftstätigkeit eines Konzernchefs und dessen vorzeitigem Rücktritt generell ein großes öffentliches Interesse. Deshalb müßten die Grenzen zulässiger Kritik gegenüber einem solchen Unternehmen und seinen Führungskräften auch weiter gefaßt werden. Würde man solche Äußerungen am Tag des Ereignisses unterbinden, wäre eine öffentliche Diskussion aktueller Ereignisse von besonderem Öffentlichkeitswert in einer mit der Meinungsfreiheit nicht zu vereinbarenden Weise erschwert.
Grässlin, seit 1991 Sprecher der Initiative Kritische Aktionäre, hat mehrere Bücher über Daimler verfaßt und ist in zahlreiche Prozesse mit dem Konzern verwickelt. Grässlin begrüßte die Karlsruher Entscheidung als Sieg der Meinungsfreiheit. Mit dem Urteil sei auch ein großer finanzieller Druck von ihm genommen. Da der Daimler-Konzern den Prozeß verlor, muß er nun die Kosten tragen.
jW-Bericht
junge welt / Inland / Seite 5