Zeitungsbericht »BGH-Prozess.
David gewinnt doch gegen Goliath«
in Stuttgarter Zeitung vom 23.09.2009



Kurzbericht S. 1 und Artikel 12 Wirtschaft

BGH-Prozess

David gewinnt doch gegen Goliath

Von Meinrad Heck

[Der Schrempp-Biograf Jürgen Grässlin erhält Recht. Foto: dpa]

Karlsruhe - Dienstagnachmittag huscht Jürgen Grässlin, Buchautor und Friedensaktivist, dann doch noch ein Lächeln über die Lippen und er drückt seiner Frau einen Kuss auf dieselben. Der Bundesgerichtshof hatte eine seiner kritischen Äußerungen über den Daimler-Konzern und Exvorstand Jürgen Schrempp unter Meinungsfreiheit verbucht und Unterlassungsklagen des Autobauers gegen ihn in letzter Instanz abgewiesen.

Grässlin nimmt selten bis nie ein Blatt vor dem Mund, vor allem, wenn es um sein Lieblingsthema geht: Der Daimler-Konzern und was sich hin und wieder hinter dessen Kulissen tatsächlich oder auch nur angeblich tut. Eines dieser vielen Interviews, das er als Sprecher der kritischen Daimler-Aktionäre hin und wieder gegeben hatte, wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden. Er hatte es gewagt, den ehedem so mächtigen Daimler-Chrysler-Exvorstandsvorsitzenden Jürgen Schrempp zu attackieren.

Ende Juli 2005 hatte der Konzern gemeldet, Schrempp werde aus dem Unternehmen ausscheiden. Während die Aktienkurse von Minute zu Minute nach oben explodierten, hatte Grässlin auf Nachfrage eines Fernsehteams erklärt: »Ich glaube nicht, dass der Rücktritt (Schrempps) […]« war.

»Ich glaube, dass er dazu immer [Aussage für mich – trotz des positiven BGH-Urteils – erst dann wiederholbar, wenn auch die Hamburger Justiz ihre Urteile aufgehoben hat!] wurde ... und das muss damit zusammenhängen, dass die Geschäfte nicht immer so immer […] waren, die Herr Schrempp geregelt hat.« Das mochten sich weder der Konzern noch der Exchef bieten lassen. Sie ließen derlei Ungeheures per Gericht verbieten.

Die Richter mussten in letzter Instanz entscheiden

Das war der heutigen Daimler AG und Schrempp auch lange Zeit gelungen. Solche Prozesse zur Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten und zur Abwehr vermeintlicher Schmähkritiken werden gerne vor Pressekammern und -senaten speziell in Hamburg geführt. Dort waren Schrempp und Daimler gegen den ungeliebten Konzernkritiker auch erfolgreich gewesen.

Das Landgericht und in der Berufung auch das Oberlandesgericht werteten 2007 das umstrittene Grässlin-Zitat ausdrücklich nicht als eine nach dem Grundgesetz verbriefte freie und damit zulässige Meinungsäußerung, sondern als eine - noch dazu unbewiesene - und deshalb unzulässige Tatsachenbehauptung, die der Freiburger zu unterlassen habe. In der Berufungsinstanz wollten die OLG-Richter in Hamburg darüber hinaus eine Revision zum Bundesgerichtshof ausdrücklich nicht zulassen.

Aber der streitbare Konzernkritiker im Kampf David gegen Daimler mochte nicht klein beigeben. Seiner Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof wurde stattgegeben. Damit lag die Causa Daimler versus Grässlin auf dem Tisch des 6. Zivilsenats beim BGH. Die Richter mussten über den langen und 70.000 Euro teuren Prozess nun in letzter Instanz entscheiden.

Eine harte Kritik muss sich ein Konzern gefallen lassen

Die Daimler AG ließ am Dienstag vor Gericht erneut erklären, Grässlin habe eine unbewiesene Tatsachenbehauptung aufgestellt. Der Vorwurf […] Geschäfte müsse »einem Beweis zugänglich« sein, ein solcher Beweis sei nicht erbracht. Deshalb gehe es um eine »bewusste Diffamierung« des früheren Vorstandsvorsitzenden und damit eine unzulässige Schmähkritik.

Grässlins Anwälte hatten dagegen argumentiert, die strittige Äußerung sei auf Presseanfrage unmittelbar nach der aufsehenerregenden Rücktrittsmeldung gefallen. Kurz nach einem solchen Ereignis könne man notwendigerweise nur spekulieren, ansonsten würde »jede Spontandiskussion erstickt«. Nach solchen Ereignissen wie dem Rücktritt von Jürgen Schrempp müsse man sich »Frei Schnauze äußern« dürfen und eine solch harte Kritik müsse sich ein Konzern gefallen lassen.

Fast deckungsgleich übernahm der sechste Zivilsenat diese Einschätzung in sein Urteil. Die Unterlassungsklagen von Daimler und dem früheren Konzernlenker wurden abgewiesen, die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben. Weil an der Bewertung von Schrempps Geschäftstätigkeit und seinem vorzeitigen Rücktritt ein großes öffentliches Interesse bestanden habe, »müssen die Grenzen zulässiger Kritik gegenüber einem solchen Unternehmen und seinen Führungskräften weiter sein«. Und weiter: »Würde man solche Äußerungen am Tag des Ereignisses unterbinden, wäre eine öffentliche Diskussion in einer mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Weise erschwert.«

Die freie Meinungsäußerung siegt

Damit musste für das höchste deutsche Zivilgericht im Fall Daimler/Grässlin der Persönlichkeitsschutz hinter dem Recht auf freie Meinungsäußerung zurückstehen. Denn der Kritiker hatte sich zu einem Thema von erheblichem öffentlichen Interesse geäußert. Die Herabsetzung der Person Schrempp »stand nicht im Vordergrund«. Keine Rede mehr also von Schmähkritik. Grässlin wertete das Urteil als »Sieg der Meinungsfreiheit«.

Er sah sich stellvertretend als Vorkämpfer gegen den Abbau solcher Bürgerrechte und als Opfer eines Konzerns, der ihn »mundtot machen wollte«. Aber »das hat nicht geklappt«. Daimler teilte hingegen mit, man bedauere das Urteil vom Dienstag, »nachdem zwei Urteile in den Vorinstanzen unsere Rechtsauffassung bestätigt hatten.«