»IM ARCHIV von…: Worte als Waffen.
Jürgen Grässlin – Kritiker der Rüstungsindustrie«
in Portrait in Badische Zeitung, S. 8, vom 20.04.2013
Jürgen Grässlin – Kritiker der Rüstungsindustrie




IM ARCHIV VON...: Worte als Waffen

Jürgen Grässlin – Kritiker der Rüstungsindustrie«

[Jürgen Grässlin Foto: Thomas Kunz]

Der Realschullehrer Jürgen Grässlin ist einer der profiliertesten deutschen Rüstungsgegnern. Er ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Waffenexporte und hat eine Biografie über den Ex-Daimler-Chef Jürgen Schrempp verfasst, ist Vertreter der kritischen Aktionäre und Sprecher der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK). Franz Schmider hat ihn besucht.

Idealisten machen es ihrer Umwelt manchmal schwer: Sie sind wie ein wandelndes schlechtes Gewissen, der lebende Beweis dafür, dass Engagement für eine gute Sache nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Diese Umwelt macht es im Gegenzug den Idealisten auch nicht gerade leicht mit ihrer weit verbreiteten Gleichgültigkeit, dem spärlich ausgeprägten Gewissen, dem leichtfertigen Umgang mit den geistigen Ressourcen oder dem wachsenden Fatalismus. Idealisten sind wie Wecker in einer zu frühen Morgenstunde – sie sind nötig, aber sie kommen immer zum falschen Zeitpunkt.

Jürgen Grässlin ist ein Idealist im besten Wortsinn, und wer ihn in seinem Arbeitszimmer besucht, dem fallen zu allererst zwei Dinge auf: das vermeintliche Chaos von Blättern auf dem Schreibtisch, Ordnern auf dem Fußboden, Büchern und Archivschubern im Regal – und das freundliche, laute Lachen zur Begrüßung und wann immer es die Situation erlaubt.

Was bei dem Thema nicht ganz leicht ist. Seit Jahren schlägt Grässlin gut vernehmlich die Trommel gegen den Verkauf von Waffen jeder Art. »Mein Lebensziel ist definiert: eine Welt ohne Waffen und Militär.« Erstaunlich ist, dass Grässlin dieses Bekenntnis mit einer Anmerkung versieht: »Und ich bin zufrieden.« Das war nicht zu erwarten angesichts der jüngsten Berichte über wachsenden Waffenhandel und der Mühen, diesen im Rahmen der UNO zu begrenzen.

»Zwischen 2001 und 2005 gab es weltweit eine Verfünffachung der Waffenexporte« sagt Grässlin – er hat die Zahlen im Kopf, steht aber dennoch auf und greift nach einem Ordner. Bevor er sich zur richtigen Seite durchgearbeitet hat, ist das Gespräch längst zwei Etappen weiter. Er hat die Zahlen parat, aber sie haben ihn nie entmutigt. »Deutschland hat 2012 allein mit Algerien Verträge über zehn Milliarden Euro abgeschlossen: Fregatten, Fahrzeuge, EADS-Zäune.« Sind Zäune Waffen? Nicht direkt, antwortet der Realschullehrer, aber dieser Zaun ist eine hochgerüstete Grenzsicherungsanlage. Sie steht für Europas Abschottungsstrategie gegen Afrika.

Jürgen Grässlin ist in den vergangenen vier Jahren mit drei Friedenspreisen ausgezeichnet worden für seinen Einsatz zur Aufklärung des Waffenhandels. Der von ihm initiierten »Aktion Aufschrei« haben sich inzwischen 150 Organisationen angeschlossen, darunter aktuell der Diözesanrat der katholischen Kirche im Erzbistum Freiburg. »Wir sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen«, sagt der ehemalige Grünen-Politiker, längst unterstützen nicht mehr nur kirchliche Friedensgruppen und pazifistische Organisationen das Anliegen. »Nach einer Emnid-Umfrage lehnen 75 Prozent der Bundesbürger Waffenexporte generell ab.« Entsprechend fühle er sich nicht mehr als Rufer in der Wüste, sondern als Mahner, der endlich Gehör findet.

Ein Ziel der Aufschrei-Aktion ist, auf neue Probleme beim Handel und Verkauf von Waffen aufmerksam zu machen. »Der Waffenmarkt revolutioniert sich gerade«, sagt Grässlin und kramt auch schon in einem Stapel Unterlagen nach Werbebroschüren von Waffenherstellern, die er bei einer Messe mitgenommen hat. Der neueste Clou ist Munition, die erst hinter den feindlichen Linien explodiert und sozusagen dem Gegner in den Rücken schießt, Munition mit Streuwirkung. Dadurch verschiebt sich das Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Opfern. Er kommt auf die Drohnen zu sprechen, die den Blick auf den Krieg verändern. »Die Folgen eines Einsatzes von Waffen werden unsichtbarer, sie erreichen uns nicht mehr. Die Opfer haben keine Stimme – zumindest nicht hier«, sagt Grässlin. Die Aktion Aufschrei will ihnen diese Stimme geben. Auch zum Kongress der Vereinigung Ärzte gegen den Atomkrieg in Villingen-Schwenningen Ende Mai will Grässlin Opfer von Kriegshandlungen einladen. »Wir müssen sichtbar machen, was in diesen Ländern angerichtet wird.«

Die öffentliche Anklage ist aber nur eine Schiene des Protests, die andere ist die juristische Auseinandersetzung. Wieder einmal hat Grässlin sich mit dem Gewehrhersteller Heckler&Koch angelegt, er hat Anzeige erstattet wegen des Verdachts, Waffen in ein Kriegsgebiet geliefert zu haben. Aus der Regalwand zieht Grässlin einen weiteren Ordner hervor und blättert darin. Alle Unterlagen sind säuberlich sortiert, von allen Dokumenten hat er Kopien an anderen Orten. Was er behauptet, sagt er, könne er immer bewiesen. In diesen Tagen erscheint sein aktuelles »Schwarzbuch Waffenhandel«. Er weiß, dass eine falsche Darstellung darin eine Klage zur Folge hätte, die ihn ruinieren könnte. Ihn und den Verlag. Sein Archiv – er hat nur einen kleinen Teil bei sich zu Hause – ist nicht nur eine ständige Fundgrube, sondern auch eine berufliche Lebensversicherung. Mit großem Selbstbewusstsein sagt er: »Mir erzählt keiner mehr etwas.«

Jürgen Grässlin, (55), gebürtiger Lörracher, ist Realschullehrer in Freiburg und Buchautor. 1994 und 1998 kandidierte er für die Grünen für den Bundestag, er verließ die Partei wegen der Teilnahme deutscher Soldaten am Kosovo-Einsatz.

http://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/im-archiv-von-worte-als-waffen--71062649.html