LITERATUR
SACHBUCH
Jürgen Grässlin hat unzählige Waffenexportskandale aufgedeckt. In seinem »Schwarzbuch Waffenhandel« klagt er deutsche Politiker an.
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Bernd Settnik / dpa
Jürgen Grässlin (Archivbild von 2006)
Er nennt Angela Merkel eine »Marketenderin der Todeswaffen«, Frank-Walter Steinmeier ist für ihn ein »Rekordhalter bei Kleinwaffenexporten«, Guido Westerwelle der »Türöffner auch für die deutsche Rüstungswirtschaft«, der Heckler-&-Koch-Hauptinvestor Andreas Heeschen ein »Manager der Mortalität«. Jürgen Grässlin betreibt keinen Wortwitz, es ist ihm bitter Ernst. In seinem Schwarzbuch Waffenhandel verfasst er »Täterprofile« und klagt an.
Wer das Ja-Aber schätzt, ist bei Grässlin an der falschen Adresse. Der Lehrer und Autor, der bereits mehrere Bücher über die deutsche Rüstungsindustrie verfasst hat, liebt die Provokation. Aber auch gründliche und tiefgreifende Recherche.
Grässlin gehört zu den gefragtesten Rüstungsexperten im Land. Seit Jahrzehnten beobachtet er den deutschen Waffenhandel. Das von ihm gegründete Rüstungsinformationsbüro Freiburg (RIB) ist in Deutschland eine Institution. Er und seine Mitstreiter haben unzählige Exportskandale aufgedeckt und in die Medien gebracht. Für seine unermüdliche Arbeit wurde er unter anderem mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.
Überparteilich oder gar neutral wollte Grässlin nie sein. Darin unterscheidet er sich von manchem Journalisten, der sich dem Zitat von Hans Joachim Friedrichs verschrieben hat, dass man sich nicht gemein machen soll mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Grässlin lebt das Gegenteil. Er hat Opfer von deutschen Sturmgewehren in Somalia und den Kurdengebieten in der Türkei besucht. Er kennt Geschichten von Massakern und Menschenrechtsverletzungen, die so brutal sind, dass sie in keinem Film gezeigt werden könnten.
Wer den 55-Jährigen in Freiburg auf der Straße trifft und ihn nicht kennt, würde sich vielleicht wundern, dass er ausgerechnet den Waffenhandel zu seinem Lebensthema gemacht hat. Grässlin, hellgraue Haare, dunkelgrauer Vollbart, ist ein lebensfroher Mensch, der gern und viel lacht. Er jubelt mit seinem Sohn dem SC Freiburg bei Fußballspielen zu und schreit sich dabei schon mal heiser. Wenn er nicht in der Schule oder auf Lesereisen unterwegs ist oder auf Podiumsdiskussionen streitet, dann findet man ihn auf Demonstrationen und Protestkundgebungen. Wann er überhaupt noch Zeit findet, mit Acrylfarben auf Leinwand seine zahlreichen Prominentenporträts zu malen, ist selbst seinen Freunden ein Rätsel.
Grässlin hat sich seinen Ruf als versiertester Rüstungsgegner in der Bundesrepublik hart erarbeitet. Gelegentlich wird er für seine krassen Formulierungen kritisiert. So schreibt er, dass durch Heckler-&-Koch-Waffen mindestens zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen sind. Eine Zahl, die sich nicht wirklich belegen lässt. Widerlegen können sie seine Gegner aber auch nicht.
Er ist Ansprechpartner für renommierte Friedensforscher und Wissenschaftler, wenn es um deutsche Kleinwaffen geht. Sein neustes Projekt ist die Aktion Aufschrei, mit der er und andere Rüstungsgegner aus ganz Deutschland Waffenexporte verhindern wollen. Margot Käßmann ist das Gesicht der Kampagne, Grässlin ist ihr Motor.
Jahrelang hat er an seinem Schwarzbuch Waffenhandel gearbeitet. Auf 624 Seiten beschreibt die Entwicklung der Bundesrepublik von einem Land, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg die Waffenproduktion verboten war, zum drittgrößten Rüstungsexporteur der Welt. Es bleibt keineswegs bei Polemik, Grässlin belegt seine Angriffe auf Politiker und Manager wie Dieter Zetsche mit Fakten. Daimler Benz baut nämlich nicht nur Limousinen und Nutzlastwagen, auch im Geschäft mit Militärfahrzeugen mischen die Stuttgarter mit. Die Tochterfirma Mercedes-Benz Military Vehicles beliefert weltweit Streitkräfte. Auch Muammar al-Gaddafi zählte zu den Nutzern.
Intensiv setzt sich der Autor mit den großen deutschen Kriegsgeräteherstellern auseinander: EADS, MBDA, Rheinmetall, MTU, Krauss-Maffei Wegmann, Daimler, ThyssenKrupp Marine Systems, Diehl und Heckler & Koch widmet er einzelne Kapitel. Im Fall von Heckler & Koch, dem Gewehrbauer aus Oberndorf, zeichnet er detailliert nach, wie Sturmgewehre vom Typ G-36 bei lokalen Polizeibehörden in mexikanischen Provinzen landeten, obwohl die Lieferung von der Bundesregierung nicht genehmigt worden war. Heckler & Koch bestritt lange jeglichen illegalen Export. Inzwischen wurden aber zwei Mitarbeiter fristlos entlassen, die angeblich ohne Wissen der Geschäftsführung die nicht genehmigten Rüstungsgeschäfte zu verantworten haben. Grässlin spricht von Sündenböcken.
Heckler & Koch und Jürgen Grässlin verbindet eine jahrelang gepflegte Feindschaft. Immer wieder verteilt der Rüstungsgegner vor den Werkstoren in Oberndorf Flyer an Mitarbeiter. Er versucht die Angestellten auf die Schattenseiten ihrer Arbeit hinzuweisen. Mehrfach hat er die Unternehmensspitze wegen angeblich illegaler Waffenexporte angezeigt. Bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart laufen immer noch mehrere Ermittlungsverfahren wegen möglicher Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und Bestechung.
Genüsslich zitiert Grässlin aus einer Rede der Heckler & Koch-Firmenspitze auf einer Informationsveranstaltung für die Belegschaft. Darin wird angekündigt, gegen Grässlin und seine Informanten mit aller juristischer Härte vorzugehen. Doch einschüchtern hat Grässlin sich nie lassen.
Bei der Bundeswehr sollte er als Wehrdienstleistender einst auf Zielscheiben schießen, die asiatische Züge hatten. Erst weigerte er sich und dann verweigerte er. Aus dem Soldaten wurde der Rüstungsgegner.
Ein Optimist ist Grässlin trotz seiner zahllosen Recherchen in Kriegsgebieten geblieben - und er hat sein positives Menschenbild behalten. Er glaubt, dass einzelne etwas ändern können und die Zivilgesellschaft den notwendigen Druck gegen den Waffenhandel erzeugen kann. Grässlin wird weiter kämpfen. Das Schwarzbuch Waffenhandel dürfte nicht sein letztes Werk gewesen sein.
VON Hauke Friederichs
DATUM 17.05.2013 - 15:47 Uhr
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