Sehr geehrte Damen und Herren,
heute wird mir der »Preis für Zivilcourage« des Jahres 2009 der Solbach-Freise-Stiftung verliehen. Über diese Preisverleihung freue ich mich in ganz außerordentlich: Zum einen, weil dies der erste Preis ist, der mir persönlich zugesprochen wird. Zum anderen, weil mit diesem Preis zivilcouragiertes Handeln geehrt wird.
Wenn wir uns fragen, was gemeinhin unter Zivilcourage verstanden wird, assoziieren viele von uns unwillkürlich das engagierte Auftreten einzelner mutiger Bürgerinnen und Bürger gegen Gewalttäter, die ihrerseits wehrlose Berber, Behinderte oder Ausländer auf der Straße oder in U-Bahnen bedrohen, zuweilen ermorden.
Damit liegen wir nicht falsch, denn mutiges Einschreiten im Falle widerrechtlicher Gewaltausübung lässt sich auch in der klassischen Definition als »Zivilcourage« bezeichnen. Nachgewiesen wird dieser Terminus erstmals als »courage civil« im Jahr 1835 in Frankreich. Gemeint war damals allerdings der Mut eines Einzelnen sowie als »courage civique«, als staatsbürgerlicher Mut.
Durchaus nachvollziehbar bezeichnet es der Arzt und Friedensaktivist Till Bastian als »Ironie der Geschichte«, dass der Begriff der »Zivilcourage« in Deutschland erstmals im Jahr 1864 vom »eisernen Kanzler« öffentlich ausgesprochen worden ist. Otto von Bismarck warf einem Verwandten in einer Debatte des Preußischen Landtags mit folgenden Worten mangelnde Unterstützung seiner Person vor: »Mut auf dem Schlachtfelde ist bei uns Gemeingut, aber Sie werden nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt«, so der erste Reichskanzler des Deutschen Kaiserreichs in seiner äußerst zweifelhaften Interpretation von »Zivilcourage«
Doch keine Angst, ich will Ihnen im Folgenden keine etymologische Exegese über den Ursprung und die Entstehung des Zivilcourage-Begriffs, keine historische Abhandlung über dessen semantischen Wandel, keinen philosophischen Vortrag über das Wesen und Sein und auch keinen wissenschaftlichen Fachvortrag über die empirisch belegbaren Folgewirkungen der Zivilcourage im Allgemeinen und zivilcouragierten Handelns im Besonderen referieren. Wollen Sie sich jedoch in besagtem Sinne dem Thema annähern, so empfehle ich Ihnen zum Einstieg, den Suchbegriff »Zivilcourage« bei google.de einzugeben. Die Ihnen in Sekundenschnelle dargebotenen rund 646.000 Begriffserklärungen und Fallbeispiele dürften zumindest für den Anfang genügen.
Anlässlich der heutigen Preisverleihung will ich Ihnen vielmehr anhand exemplarisch ausgewählter Beispiele Zivilcourage, die ich meine vorstellen und Ihnen darlegen, weshalb zivilcouragiertes Handeln angesichts der Lage der Menschheit im 21. Jahrhundert von existentieller Bedeutung ist.
Der Begriff der Zivilcourage beinhaltet die Forderung nach Courage, nach Mut, aber auch nach Rage, nach Wut. Lassen Sie mich mit Letztgenannter beginnen. In Rage gerate ich angesichts der Tatsachen,
dass mehr eine Milliarde Menschen in Armut lebt und Hunger leidet, während eine kleine Gruppe Reicher und Superreicher vom globalen System der Ausbeutung profitiert,
dass mehr als einer Milliarde Menschen der Zugang zu sauberen Wasser verwehrt wird und diese Menschen ungeschützt Krankheitserregern ausgeliefert sind,
dass die Ausgaben zur Armutsbekämpfung vielerorts sinken, während Rüstungsausgaben – nach einer Phase der Abrüstung und der vormaligen Hoffnung auf eine Friedensdividende – weltweit wieder steigen,
dass zurzeit mehr als 40 Kriege und Bürgerkriege toben – nicht nur in Afghanistan und im Irak, sondern auch verdrängte, vergessene und verschwiegene Kriege, so im Sudan, in Somalia und anderswo,
dass diese Kriege nicht verhindert werden konnten, nicht verhindert werden wollten,
dass die Bundesrepublik Deutschland – nach den USA und Russland und noch vor Großbritannien, Frankreich und China – zum drittgrößten Waffenexporteur avanciert ist,
dass Deutschland und andere Industriestaaten Waffen selbst in Krisen- und Kriegsgebiete und an menschenrechtsverletzende Regime liefert und damit Öl ins Feuer dieser Kriege gießt,
dass Waffenschmieden, wie Heckler & Koch und Daimler/EADS, in Zeiten der Wirtschaftskrise zu Kriegsprofiteuren avancieren,
dass alles Leben auf der Erde auch Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges noch immer vom atomaren Overkill bedroht wird,
dass die weltweite Bankenkrise die Weltwirtschaft in eine existentielle Krise geführt und Abermillionen von Menschen ihrer Lebensgrundlagen entzogen hat,
dass Gentechnikkonzerne unsere Lebensmittel vergiften,
dass täglich weitere Tier- und Pflanzenarten unwiederbringbar aussterben,
dass weltweit neue Atomkraftwerke gebaut und die Laufzeit der deutschen AKWs verlängert werden soll,
dass die Klimakatastrophe mit dramatischen Auswirkungen naht und
dass unsere Lebensgrundlagen irreversibel zerstört werden – wenn wir nicht sofort umkehren.
Vielzählige weitere Beispiele ließen sich nennen.
Spätestens mit der Unterzeichung der Charta der Vereinten Nationen im Jahre 1945 soll die Durchsetzung des Gewaltverbots zu Abrüstung führen. Unzählige Abrüstungskonferenzen folgten, die Zahl der Kriege und Bürgerkriege aber ist noch immer exorbitant hoch. Seit bald vier Jahrzehnten – Dennis Meadows Studie »Die Grenzen des Wachstums« erschien 1972 – warnen renommierte Wissenschaftler vor dem ökologischen Kollaps unseres Planeten.
Dieser wird durch unsere Lebens- und Wirtschaftsweise massiv befördert. Das Schremppsche Prinzip des Shareholder Value – Speed! Speed! Speed! – hat sich durchgesetzt, auch bei der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
Sie glauben gar nicht, wie wütend ich bin, dass unser aller Engagement bislang nicht ausgereicht hat, diesem Destruktionsszenario erfolgreich entgegenzutreten. Wahrscheinlich waren wir zu angepasst, zu zurückhaltend, zu freundlich gegen über den politisch Verantwortlichen. Rage ist also sinnvoll, im 21. Jahrhundert ist sie überlebensnotwendig. Dabei muss es uns gelingen, unsere Wut in Handeln, in Aktion, in Gegenwehr, in Widerstand zu transformieren mit der Zielsetzung der Umkehr, der positiven Veränderung hin zu einer besseren Welt. Genau dabei benötigen wir Zivilcourage.
Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Aber ich setze wenig Hoffnung darauf, dass der Wandel zum Guten allein von oben kommt, dass die Politik ein Einsehen zeigt, dass sich Regierungspolitikerinnen und -politiker aus dem Netz so genannter »Sachzwänge«, aus ihrer Abhängigkeit und dem Filz von Korruption lösen, dass sie ihr Denken und Handeln urplötzlich nach den Interessen der Bürgerinnen und Bürger in ihren Ländern richten.
Nein! Der Wandel zu einer besseren Welt, die Rückkehr zu Moral und Ethik muss aus der Zivilgesellschaft angestoßen werden, die Initialzündung muss von unten erfolgen. Vorbei sind die Zeiten der Schweigestunden, gekommen ist die Ära aktiven Handelns. Wollen wir die drohende Apokalypse verhindern, so wird von uns mehr verlangt, müssen mehr tun, müssen wir zivilcouragierter handeln als bisher. Dabei muss jede und jeder von muss das eigene Ziel und den eigenen Weg definieren.
Für mich habe ich mein Ziel und meinen Weg definiert. Als Pazifist stelle ich mein Leben in den Dienst der Vision einer Welt ohne Militär und Rüstungsindustrie. So lange ich lebe – und da bin ich Realist – wird diese Zielvorstellung eine Utopie bleiben. Doch ich möchte mit dem Einsatz auch meines Leben erreichen, dass die Utopie konkreter wird, dass Schritte zur Abrüstung und Entmilitarisierung eingeleitet und umgesetzt werden, dass Waffenexporte gestoppt werden.
Europas führender Pistolen- und Gewehrhersteller ist die Firma Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar. Mehr als 1.500.000 Millionen Menschen sind bis zum heutigen Tag durch eine Kugel aus dem Lauf einer H&K-Waffe getötet worden, weitaus mehr verstümmelt. Damit ist Heckler & Koch Deutschlands tödlichstes Unternehmen.
Die Bilder lassen mich nicht mehr los: Bei meinen vielfachen Reisen nach Türkisch-Kurdistan – zuletzt im Frühjahr diesen Jahres – und nach Somalia, bin ich über Massengräber gegangen. Dort bin ich dem Gewehrtod begegnet. Ich habe Interviews geführt mit mehr als 220 Überlebenden des Einsatzes von H&K-Waffen. Fast alle sind sie traumatisiert, viele verstümmelt, haben Mutter oder Vater, Schwester oder Bruder, Tochter oder Sohn durch den Einsatz der in Deutschland entwickelten Gewehre und Maschinenpistolen verloren. Die so genannten »Kleinwaffen« sind eine Saat des Teufels. Kein anderer Waffentyp ist derart mörderisch. Zwei von drei Opfern sterben in Kriegen und Bürgerkriegen durch den Einsatz von Gewehren.
Mit den Einnahmen der rund 40 Lesungen meines Buches »Versteck dich, wenn sie schießen«, habe ich den Fonds des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS-Fonds) gegründet. Sollten Sie eine Weihnachtsspende tätigen wollen, dann darf ich mich im Namen der Gewehropfer von Herzen bedanken.
Wir – und ich sage bewusst wir – können viel mehr erreichen, als uns gemeinhin zugetraut wird. Für das kommende Jahr 2010 haben wir uns viel vorgenommen:
Wir werden die neue, hochpräzise Tötungsmaschine, das Gewehr G36, von Heckler & Koch in den Mittelpunkt unserer Aktivitäten stellen, werden mit der bundesweiten Resolution »Stoppt das G36-Gewehr!« Unterschriften sammeln und diese an den Bundessicherheitsrat und damit an die Bundesregierung richten.
Wir werden in Vorträgen und Redebeiträgen bei Aktionen der Friedens- und Menschenrechtsbewegung die Exportwege des G36-Gewehrs und die menschenverachtende Rüstungsexportgenehmigungspraxis der Bundesregierung aufzeigen.
Wir werden in gewaltfreien Aktionen – erinnert sei an das symbolische Zersägen von Gewehren oder das Verschließen des Werkstors von Heckler & Koch – in Oberndorf und vor dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Eschborn den Stopp der G36-Exporte fordern.
Wir werden in Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten und Vertretern des Bundesausfuhramts massiv auf den Stopp der Kleinwaffenexporte und Lizenzvergaben drängen.
Wir werden recherchieren und im Fall illegaler Exporte Strafanzeige stellen.
Für Schulen und Jugendgruppen werden wir im Rahmen von PROJEKT FRIEDEN die Projekteinheit »Rüstungsexporte und Menschenrechte« publizieren.
Wir werden Kunstaktionen gegen das G36 in Oberndorf durchführen und eine H&K-Opferuhr installieren – denn alle 14 Minuten stirbt ein Mensch durch eine Kugel aus dem Lauf einer H&K-Waffe.
Und wir werden in den kommenden Jahren Angehörige von Opern des Einsatzes von H&K-Kleinwaffen aus der Türkei, Somalia oder dem Sudan nach Deutschland einladen und ihnen damit eine Stimme geben.
Deutschland ist – allen voran aufgrund der massiven Daimler/EADS-Rüstungsexporte – Nummer 3 der Weltwaffenexporteure. Die Daimler AG ist ein führender Anteilseigner am Rüstungsriesen European Aeronautic Defence and Space Company (EADS). Die Produktpalette von Daimler/EADS reicht über Beteiligungen an weiteren Rüstungskonzernen von Kampflugzeugen über Militärhubschrauber bis hin zu Atomwaffenträgersystemen. Damit ist die EADS der einzige europäische Konzern, der noch Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen herstellt.
Die EADS rangiert mit Rüstungsverkäufen im Volumen von 12.600 Millionen US-Dollar auf Platz 7 der Weltwaffenexporteure und auf Platz 2 in Europa. Das Unternehmen exportiert Waffen an menschenrechtsverletzende Staaten, z.B. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Pakistan, Indien und Malaysia.
Mit unserer Kampagne »Wir kaufen keinen Mercedes: Stoppt Rüstungsexporte!« werden wir den Druck auf den größten deutschen Produzenten und Exporteur von Großwaffensystemen – Daimler/EADS – massiv verstärken:
Im Jahr 2010 werden wir gewaltfreie Aktionen vor den Produktionswerken von Daimler/EADS-Waffen und vor der Stuttgarter Konzernzentrale durchführen.
Wir planen eine Vielzahl von Aktivitäten im Rahmen der Daimler-Hauptversammlung im April 2010 in Berlin und der EADS-Hauptversammlung im Mai 2010 in Amsterdam.
Zugleich werden wir den mit der Daimler/EADS-Führung begonnenen kritischen Dialog zum Stopp von Rüstungsexporten und der Lieferung militärischer Fahrzeuge fortsetzen.
Und wir werden die Website www.wir-kaufen-keinen-mercedes.de und die Kampagne internationalisieren.
Beide Kampagnen erfolgen in Zusammenarbeit befreundeter Friedensorganisationen in Deutschland, in den USA, in Frankreich, Großbritannien und Spanien.
In diesen Tagen haben uns die Bilder aus Berlin eines gezeigt: Das Mauerwerk, das Ost- und Westdeutschland und die raketenstarrenden Atomarsenale der NATO und des Warschauer Pakts von einander getrennt hat, dieses Mauerwerk ist eingerissen worden. Eingerissen, von Menschen an der Basis, von unten, mit friedlichen Mitteln.
All diejenigen Menschen, die dem Polizei- und Militärapparat der DDR mit ihren ungeschützten Körpern entgegengetreten sind, haben Zivilcourage bewiesen. Sie haben uns gezeigt: Zivilcourage ist nicht nur ein wünschenswertes Denkansatz, nicht nur ein bloßes Theoriemodell. Zivilcourage bedeutet vor allem den Willen zur Veränderung, zur Verbesserung durch aktives Handeln. Und: Zivilcourage ist erfolgreich!
In diesem Sinne fordere ich Sie zum Handeln auf, gemeinsam mit anderen.
Zeigen Sie Zivilcourage, handeln Sie zivilcouragiert:
Erheben Sie öffentlich Ihre Stimme gegen politische Fehlentscheidungen!
Beteiligen Sie sich an gewaltfreien Blockaden der Zufahrtswege zu Atomkraftwerken!
Mischen Sie sich aktiv ein, wo immer die Menschenwürde verletzt wird!
Helfen Sie Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen!
Demonstrieren Sie vor Militärkasernen, von denen aus deutsche Soldaten nach Afghanistan aufbrechen!
Geben Sie Kriegsdeserteuren eine Heimat!
Verschließen Sie die Werkstore waffenproduzierender und -exportierender Fabriken!
Verbringen Sie Ihren Urlaub in ehemaligen Kriegsgebieten, wo Ihre Hilfe dringend zum Wiederaufbau gebraucht wird!
Leisten Sie Widerstand, wo immer Ihre Zivilcourage vonnöten ist!
Zivilcourage, die ich meine, legt den Finger in die Wunde all dieser Missstände.
Zivilcourage gibt den stummen Opfern von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung eine Stimme.
Zivilcourage kämpft mit den Mitteln der Gewaltfreiheit gegen Gewalt für eine friedlichere, gerechtere, sozialere und ökologischere Welt.
Wenn wir diesen Kampf gemeinsam kämpfen, wird die Zivilcourage erfolgreich sein
– davon bin ich überzeugt.
Vielen Dank
Als Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft - Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), Sprecher der Kritischen AktionärInnen Daimler (KAD),
Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS) und als Vorsitzender des RüstungsInformationsBüros (RIB e.V.) setzt sich Jürgen Grässlin
aktiv für konkrete Schritte zur Abrüstung ein. Grässlin ist Autor einer Vielzahl kritischer Sachbücher über Rüstungs-, Militär- und Wirtschaftspolitik.
Kontakt und Informationen: Tel. 0761-76 78 208, Mob.: 0170-611 37 59
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