Michael Ohnewald
Seit 25 Jahren kämpft Jürgen Grässlin
gegen Waffenfirmen und Rüstungsexporte.
Foto: Gottfried Stoppel
Freiburg - Es ist wieder einer dieser Tage, an denen Jürgen Grässlin auszieht, die Erde zu entwaffnen. Am Morgen hat er in der Lessingrealschule Deutsch und Erdkunde gelehrt, am Nachmittag lehrt er die deutsche Rüstungsindustrie das Fürchten. Dazwischen hastet er durch sein Freiburger Eigenheim an großformatigen Acrylbildern vorbei. Der Hausherr hat sie selbst gemalt. Früher hing Jürgen Schrempp an der Treppe. »Den konnte ich irgendwann nicht mehr sehen«, sagt Grässlin. Jetzt hängt dort Mahatma Gandhi. Jürgen Grässlin, 52, hat viele Beinamen. Utopist, Humanist, Menschenrechtler, Rebell, Bestsellerautor, Friedenskämpfer, Daimler-Kritiker. Als Störenfried ist er eine Marke. Die evangelische Stadtakademie in Augsburg hat ihn gerade für einen Abendvortrag gebucht. Es geht um Kriegsgewinnler, um Rüstungsgeschäfte, um die Waffenfabrik Heckler & Koch. »Das ist die tödlichste Firma Deutschlands«, sagt der Redner und ballert los mit seinen Fakten. »Durchschnittlich alle 14 Minuten stirbt auf dieser Welt ein Mensch durch eine Kugel einer H&K-Waffe. Mehr als anderthalb Millionen sind es bisher – alles eine Folge der Direktexporte und Lizenzvergaben.«
Eigentlich ist er ganz nett, dieser Grässlin. Eine Frohnatur, ein Harmoniemensch. Wehe, wenn in Freiburg der Haussegen schief hängt und er Zoff mit seiner Eva hat. Das geht ihm »furchtbar nahe« und kommt zum Glück selten vor. »Meine Frau ist zugleich mein bester Freund«, sagt er. Mit seinem besten Freund hat er zwei Kinder, beide erwachsen. Dann gibt es noch die christlich orientierten Eltern, den Bruder, der Elektromeister ist, und den friedenspolitischen Freundeskreis. Sie alle seien ihm ganz wichtig, sagt Grässlin. Man möchte ihn dabei fast knuddeln wie einen Teddybär.
Der Teddy mit den Zähnen
Doch der Teddy, der hat Zähne, und er trägt sie im Gesicht. Es verändert sich, wenn’s um die Waffenindustrie geht. Dann werden die Augen klein, als wollten sie zielen auf jene Konzerne, die Millionen verdienen am Leid anderer. In Türkisch-Kurdistan und Somalia hat Grässlin gesehen, was Kugeln aus dem Lauf deutscher Waffen bewirken. Über Massengräber ist er gegangen, aus denen Brustkörbe und Schädel ragten. Solche Bilder treiben ihn an, wenn er vor dem Werkstor der Oberndorfer Waffenfabrik demonstriert oder Daimler-Chef Zetsche bei der Hauptversammlung in Berlin eine Karte in die Hand drückt, auf welcher der Konzernboss mit dem grauen Schnauzer abgebildet ist. Über ihm steht in roten Lettern die weniger nette Frage: »Kennen Sie Deutschlands größten Waffenhändler?«
Zetsche, der Herr über die Sterne, und Grässlin, der Star-Warrior: sie werden wohl keine Freunde mehr. 2005 ist der gefürchtete Redner aus Freiburg zuletzt von der Daimler AG, »vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche«, und als würde das allein nicht genügen, auch noch von Jürgen Schrempp persönlich, rechtschaffen verklagt worden. Grässlin hatte kurz nach Schrempps Rücktritt in einem Interview gemutmaßt, dass der Möhringer Topmanager sein Büro womöglich nicht ganz freiwillig geräumt haben könnte. Vier Jahre lang verfassten Anwälte ordnerweise Schriftsätze. Fast 80.000 Euro kostete Grässlin der Spaß, der nicht immer spaßig war. Vor wenigen Wochen hat ihm der Bundesgerichtshof recht gegeben und seine spontane Spekulation als »zulässig« eingestuft. »Der Versuch ist gescheitert, mich mundtot zu machen, nicht zuletzt dank der Standhaftigkeit meines Tübinger Rechtsanwalts Holger Rothbauer«, sagt Grässlin. »Dieses Urteil ist ein Sieg für die Meinungsfreiheit und die Bürgerrechte.«
Ein Prozess wie dieser kostet Nerven und Geld. Davon kann sich selbst einer wie Grässlin nicht ganz frei machen. »Wenn wir verloren hätten, wäre unser Haus weg gewesen.« Schrempp hatte seine Persönlichkeitsrechte verletzt gesehen, Zetsche drohte mit Schmerzensgeldforderungen. Viel Feind, viel Ehr. Grässlin hat sich mit seiner Eva besprochen. »Du hast recht, und wir ziehen das durch«, hat sie ihn bestärkt.
»Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner« wird Jürgen Grässlin genannt. Diesen Titel hat er sich hart erarbeitet. Er stört bereits seit dem 19. Lebensjahr. Bei der Grundausbildung der Bundeswehr in Kempten sollte Grässlin mit einem G3 von Heckler & Koch auf Metallscheiben schießen, von denen einige Schlitzaugen hatten. Als er sich weigerte, bekam er ein Holzgewehr und wenig später die Entlassungspapiere. Grässlin wurde Lehrer und landete an einer Schule in Sulz unweit von Oberndorf, dem H&K-Stammsitz. Mit der örtlichen Friedensbewegung nahm er Europas führenden Pistolen- und Gewehrhersteller ins Visier. Das liegt in der Gegend irgendwie nahe.
David gegen Goliath
Kritiker der Konzernpolitik: Jürgen Grässlin,
der Frontmann der Friedensbewegten,
unter dem Daimler-Stern in Möhringen.
Foto: Gottfried Stoppel
Je mehr er übte, desto zielsicherer wurde er. Grässlin schlief wenig und arbeitete hart. Er wertete die militärische Fachpresse aus, gründete ein Rüstungsinformationsbüro, engagierte sich zwischenzeitlich im Landesvorstand der Grünen, wurde Bundessprecher der Deutschen Friedensgesellschaft. Im Laufe der Zeit schoss er sich auf den Daimler-Konzern ein, der als Anteilseigner am Rüstungsriesen EADS in dem Geschäft kräftig mitmischt.
Gesegnet mit fröhlichem Pragmatismus, kaufte sich Grässlin eine Aktie der Stuttgarter Weltfirma und meldete sich als Sprecher der Kritischen Daimler-Aktionäre zu Wort. Seinen ersten Auftritt hatte er 1991 in der Schleyerhalle. »Herr Schrempp, an Ihren Händen klebt das Blut unzähliger Toter«, entrüstete sich der Freiburger Ökopax bei der Hauptversammlung. Danach stieg Schrempp vom Podium herab und gab ihm die Hand: »Das war ja ein netter Einstieg!«
Es sollte nicht dabei bleiben, denn Grässlin umkreiste fortan als David der Pazifisten den Goliath der Kapitalisten, was in einem aberwitzigen Projekt gipfelte: Der Sternkritiker mutierte zum Sterndeuter und verfasste eine Biografie über Schrempp.
Der Daimler-Chef spielte mit, stellte sich den Gesprächen und öffnete dem Biografen viele Türen, auch in Südafrika. Das Ergebnis war ein Bestseller, doch seitdem steht es zwischen den beiden Freiburgern nicht mehr zum Besten. Schrempp hat nicht gefallen, was Grässlin geschrieben hat. Und Grässlin hat nicht gefallen, was aus Schrempp geworden ist. »Als er Weltmanager wurde, da hat er sich verändert«, meint der Buchautor. Früher habe man offen reden können. Einmal habe ihm Schrempp nach einem Disput gesagt: »Herr Grässlin, endlich gibt mir jemand Kontra!« Jetzt gibt’s nix mehr. Es herrscht Funkstille.
Vielleicht auch deshalb, weil Grässlin in der Folge weitere Bücher verfasst hat, in denen der Stuttgarter Konzern meistens nicht allzu gut wegkam, was schon Titel wie »Das Daimler-Desaster« nahelegen. Über Umsätze geht es darin und über Grundsätze. Letztere sind Grässlin wichtiger.
Durch und durch Optimist
Ob er mit alledem auch nur den Bau einer Waffe verhindert hat? »Einzelne Waffenlieferungen auf jeden Fall«, sagt er in der Art, wie Propheten in der Wüste reden. Er weiß, dass die Welt weiter aufrüstet und Deutschland der drittgrößte Rüstungsexporteur ist. Solchen Fakten stellt er seine schlichte Zuversicht entgegen. »Ich bin durch und durch Optimist. Und als solcher glaube ich, dass es für jeden von uns möglich ist, diese Welt besser zu machen.«
Einen Preis für Zivilcourage hat er neulich bekommen. Das tut gut, dort, wo die Rezeptoren der Eitelkeit sitzen. Das Geschäft des Rebellen ist manchmal einsam. In seiner Rede nach der Laudatio sagte Grässlin: »Als Pazifist stelle ich mein Leben in den Dienst der Vision einer Welt ohne Militär und Rüstungsindustrie. Solange ich lebe, und da bin ich Realist, wird diese Zielvorstellung eine Utopie bleiben.«
Grässlin hegt seine Utopie. Für sie arbeitet er fast jede Nacht bis halb zwei und steht am nächsten Morgen wieder um sechs auf, um seinem Brotberuf in der Schule nachzugehen, der seine zweite Berufung ist. Sollten sich doch einmal leise Zweifel in die Festung seiner Gedanken schleichen, muss er nur an die Sommerferien denken. Die verbringt der Grenzgänger meistens in ehemaligen Kriegsschauplätzen. In Somalia zog er auf Massengräbern an Schnüren, an denen Knochen hingen. Bei Exekutionen hatte man die Leute zusammengebunden und danach verscharrt. Grässlin sprach bei seinen Reisen mit traumatisierten Menschen, führte 220 Interviews mit denen, die nickten, als er ihnen Bilder vom G3-Gewehr zeigte. Manche Somalis oder Kurden haben vor ihm in die Hose gemacht. Andere krochen unter Tische. »Flashback« nennen Psychologen solche Reaktionen auf schreckliche Erinnerungen. »Wir sind uns gar nicht bewusst, was wir mit unseren Waffenlieferungen anrichten«, sagt Grässlin. »Rüstungsexporte sind Beihilfe zum Völkermord.«
Die Stimme der Menschen
Die Stimme dieser Menschen will er sein. Dafür scheut der Harmoniemensch kein klares Wort und auch keinen Gerichtsprozess. Koste es, was es wolle. »Was mir hierzulande droht, steht doch in keinem Verhältnis zu dem, was dort passiert!«
Im nächsten Jahr will er wieder mehr als 60 Vorträge und Reden halten, nebenbei Stoff für neue Bücher sammeln, eine Kampagne starten. Jürgen Grässlin ist anders nicht denkbar. Der Störenfried hat neuerdings ein paar Falten im Gesicht und auch einen grauen Bart, aber er stört noch immer. Die Reisen in die Empfängerländer deutscher Waffen nähren seine Motivation.
Somalia habe ihm die Augen geöffnet, sagt Grässlin zum Abschied. Dem Hungertod sei er dort begegnet und dem Gewehrtod. »Seither ist mir noch bewusster, wie glücklich wir hier sind und welche Verantwortung daraus erwächst – für uns alle.«
http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/2294083_0_5682_-ruestungsgegner-gewehre-im-visier.html