Portrait »Der Firmenkritiker, der sehr nah dran ist«
in der tageszeitung (taz) vom 01.09.2006



Portrait

Der Firmenkritiker, der sehr nah dran ist

Manchmal muss er malen, bevor er schreibt. Indem er ein quadratmetergroßes Acrylporträt von Jürgen Schrempp, dem Exvorstand des DaimlerChrysler-Konzerns, verfertigte, ordnete Buchautor Jürgen Grässlin Haltung und Gliederung. Als sein Buch fertig war, hing auch das Bild in der Prominentengalerie im Freiburger Reihenhaus - neben den handgemalten Ikonen Jim Morrisons, John Lennons, Gandhis und Kurt Tucholskys. Verehrt der Pazifist Grässlin den Konzernlenker Schrempp, der nicht nur Autos, sondern auch Waffen und Munition von Milliardenwert herstellen ließ? Bekannte werfen dem Realschullehrer und Hobbymaler vor, den ehemaligen Daimler-Vorstand in seiner Biografie »Der Herr der Sterne« zu weich angefasst zu haben. Schrempp selbst sah das anders. Während er dem Autor früher mehrere Interviews gewährt hatte, brach er den Kontakt nach Erscheinen des Buchs abrupt ab.

Im Zusammenhang mit Grässlins neuem Werk »Das Daimler-Desaster« hat der Vorstand des Unternehmens jetzt seinerseits härter zugepackt. Gestern verurteilte das Landgericht Berlin Grässlin zum Schweigen. Der Konzernkritiker darf nicht mehr behaupten, dass Schrempp-Nachfolger Dieter Zetsche [.] [DR. Z IS WATCHING YOU!].

Der fragliche Fall bleibt für den Konzern und seinen Chef trotzdem heikel. Meint Grässlin Zetsche doch, nachweisen zu können, dass dieser manche Autohändler zu zwielichtigen Verkäufen von Luxuslimousinen angestiftet habe. Diese so genannten Graumarktgeschäfte, mit denen teure Autos zu geringeren Preisen in den Markt gedrückt werden, könnten gegen EU-Regelungen verstoßen.

DaimlerChrysler braucht einen guten Anwalt. Denn Grässlin will höher hinaus. Weder reichen ihm seine bisherigen Notierungen auf der Spiegel-Bestseller-Liste noch seine Jobs als Sprecher der Kritischen Aktionäre von DaimlerChrysler und des ehemaligen DKP-Klüngels Deutsche Friedensgesellschaft. Im Durchschnitt schläft er fünf Stunden pro Nacht, in den Schulferien ist er ständig auf Recherchereisen, um Informanten zu besuchen und Quellen ausfindig zu machen. Für den aktuellen Prozess riskiert Grässlin Privatschulden von mehreren 10.000 Euro. Notfalls will er bis zum Bundesverfassungsgericht ziehen.

»Ich freue mich auf die Beweisaufnahme«, sagte Grässlin gestern - schließlich könne er Zeugen benennen, die Dieter Zetsche mehr Schaden zufügen würden, als nur Kratzer am Lack.

Bald wird Grässlin wieder anfangen zu malen. Ein Acrylporträt Dieter Zetsches gibt es in seinem Häuschen noch nicht.

HANNES KOCH

taz vom 01.09.2006, S. 2