Deutschland hat seine Waffenexporte in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt. Sind auch Diktaturen in Nordafrika beliefert worden?
JÜRGEN GRÄSSLIN: Durch seine massiven Rüstungslieferungen auch an menschenrechtsverletzende und kriegsführende Staaten ist Deutschland heute Europameister beim Waffenhandel. Das diktatorische Regime Mubarak war als Entwicklungsland der Hauptkunde. Allein von 2008 auf 2009 hat die Bundesregierung mehr als eine Verdoppelung der Lieferungen an Ägypten genehmigt. Innerhalb dieses einen Jahres ist der Genehmigungswert von 33,6 Millionen Euro auf 77,5 Millionen Euro massiv gesteigert worden. So konnten militärische Landfahrzeuge, gepanzerte Fahrzeuge aus Deutschland und Panzer mit deutschen Bauteilen gegen Demonstranten der Demokratiebewegung eingesetzt werden.
Sie kritisieren seit Jahren auch den Export von Kleinwaffen.
GRÄSSLIN: Ja, weil deren Einsatz verantwortlich für viele Verletzte und Tote ist. Dennoch hat die für ihre rücksichtslose Vorgehensweise bekannte ägyptische Polizei wohl Abertausende von Maschinenpistolen des Typs MP5, entwickelt von Heckler & Koch in Oberndorf, erhalten. Bis heute haben mehr als 1,5 Millionen Menschen ihr Leben durch Waffen dieser Firma verloren.
Hat Deutschland auch an Libyen Rüstungsgüter geliefert?
GRÄSSLIN: Der Hauptwaffenlieferant Libyens war und ist Russland. Allerdings zählte auch Deutschland zu den Geschäftspartnern des diktatorischen Gaddafi-Regimes. Nach der Aufhebung des Waffenembargos 2004 erteilte der Bund erste Ausfuhrgenehmigungen für den Export von Geländewagen.
War das alles?
GRÄSSLIN: Nein, später folgte der Export von Kommunikationsausrüstung, Splitterschutzanzügen, Störsendern und sogar von Hubschraubern und Hubschrauberteilen nach Libyen. Der weltweit größte Hersteller militärischer Hubschrauber ist das EADS-Tochterunternehmen Eurocopter. Die EADS produziert in Ulm Militärelektronik und Radare, in Bayern Kampfhubschrauber. Bekanntlich zählen diese zu den Waffensystemen, mit denen Militärs die eigene Bevölkerung massiv unterdrücken kann. Deshalb drängt sich für mich die Frage auf: Wurden EADS-Militärelektronik oder Militärhelikopter an das Terrorregime in Libyen geliefert?
Halten Sie das deutsche Kriegswaffenkontrollgesetz für unzureichend?
GRÄSSLIN: Ja, es kann zu leicht umgangen werden. Das Bundesausfuhramt und der geheim tagende Bundessicherheitsrat unter Leitung der Bundeskanzlerin kann Rüstungsexporte genehmigen oder ablehnen. Nähme die Bundesregierung ihre »Politischen Grundsätze zum Rüstungsexport« ernst, dürfte sie keinem einzigen Waffentransfer in einen menschenrechtsverletzenden Staat zustimmen. Leider aber werden die bestehenden Gesetze meist im Sinne der Rüstungsindustrie ausgelegt, sodass deutsche Firmen Waffen in fast alle Länder liefern dürfen.
Was ist mit den Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie?
GRÄSSLIN: Das Totschlagargument hat an Bedeutung verloren. Heute arbeiten dort in Deutschland nur noch 80 000 Menschen, vor 20 Jahren waren es 400 000. Fast alle rüstungsproduzierenden Unternehmen verfügen über starke zivile Sparten, die sie ausbauen könnten.
Was fordern Sie als Sofortmaßnahme bezüglich der Waffenlieferungen an Diktaturen?
GRÄSSLIN: Alle Waffenlieferungen an diktatorische und scheindemokratische Regime müssen sofort gestoppt werden. In einem zweiten Schritt muss das Grundgesetz so geändert werden, dass künftig der Export von Waffen und Rüstungsgütern grundsätzlich verboten wird. Mit diesem Ziel werden mehr als 40 Friedensorganisationen im Frühjahr 2011 eine Kampagne gegen den Waffenhandel starten.
Info
Der Freiburger Lehrer Jürgen Grässlin gilt als Deutschlands bekanntester Rüstungsgegner. Er ist Autor mehrerer kritischer Sachbücher über Rüstungsexporte und
Militärpolitik.
http://www.swp.de/ulm/nachrichten/politik/Deutsche-Waffen-fuer-Diktatoren;art4306,861221