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Fast wahnsinnig aus Sorge um die Familie
Seit einem Jahr sitzt der Reutlinger Unternehmer Thomas Betz in Untersuchungshaft. Wie das Leben in der Justizvollzugsanstalt
Stammheim aussieht, weiß sein ehemaliger Konkurrent Gerhard Schweinle (44). Dieser saß selbst zwei Jahre und sieben Monate lang in
Untersuchungshaft, ebenfalls wegen angeblicher Steuerhinterziehung. Vom Bundesgerichtshof wurde er im Juni 2004 freigesprochen. Den
Beruf des Spediteurs hat er inzwischen aufgegeben
STUTTGART-STAMMHEIM/REUTLINGEN. »Für mich war Stammheim die Hölle auf Erden«, sagt Gerhard Schweinle. Die Trennung von der Familie,
die Isolation in der Zelle, der totale Freiheitsentzug - über das Leben hinter Gittern sprach er mit GEA-Redakteur Hans Jörg
Conzelmann.
GEA: Herr Schweinle, was haben Sie während Ihrer Haft am meisten vermisst?
Schweinle: Meine Familie.
GEA: Wie oft haben Sie Ihre Familie sehen können?
Schweinle: Meine Frau drei Mal im Monat, jeweils eine halbe Stunde unter Bewachung, meine Kinder erst nach zwei Jahren.
GEA: Wie verlief Ihr Tag?
Schweinle: Kommt darauf an, ob Sie arbeiten dürfen oder nicht. Ohne Arbeit ist um 5.45 Uhr Wecken durch eine Glocke, um 6 Uhr
Frühstück (also Tee oder Muckefuck-Kaffee, zwei bis drei Brotscheiben, etwas Wurst oder Käse und dazu eine Art Butter). Dann
Türe zu. Um 11.30 Uhr ist Mittagsessensausgabe, also Zelle auf, heraustreten, Essen aufnehmen, wieder allein in die Zelle und zu.
30 Minuten später Türe auf, Geschirr einsammeln, Türe zu. Gegen 15.30 Uhr gibt's Abendessen. Einige Scheiben Brot, etwas Wurst,
eventuell ein Apfel. Dann ist die Zelle bis nächsten Morgen zu.
GEA: Und wenn man arbeiten darf?
Schweinle: Wecken ist um 5.45 Uhr, um 6.30 Uhr Abmarsch zur Arbeit, zurück um 11 Uhr. Mittags gegen 12 Uhr wieder Abmarsch und
zurück um 15 Uhr. Pro Tag gibt es eine Stunde Hofgang. Im Hof kann man aus eigener Initiative im Kreis joggen, das sind so etwa
100 Meter pro Runde. Pro Stockwerk treten immer 100 Mann zum Hofgang an. Dabei kommt es immer mal wieder zu schweren
Auseinandersetzungen Zweimal die Woche kann man mit jeweils acht bis zehn Mann gemeinsam duschen, das ist das einzige warme Wasser.
Zwei- bis dreimal die Woche darf man für etwa zwei Stunden mit anderen Gefangenen in einer Zelle Skat spielen. Die Kirchen und
einige engagierte Beamte bieten einmal die Woche Gruppensitzungen an. Da gibt es zum Beispiel Bibelstunden, Chor, Schach,
Tischtennis oder Gesprächsrunden. Die Chance, da reinzukommen, ist minimal, weil die Größe der Gruppen auf zwölf Mann beschränkt
ist und es bis zu 1100 Gefangene sind.
GEA: Wie war Ihr Kontakt zur Außenwelt? Hatten Sie Zeitung und TV?
Schweinle: Tageszeitungen gibt es drei kostenlose Exemplare pro Stockwerk, also für 100 Mann. Wer zuerst kommt, liest zuerst -
andere eben nie. Wobei man keinen direkten Zugriff auf die Zeitungen hat, sondern die Reiniger diese weitergeben und dadurch
natürlich bestimmen, wer eine bekommt. Man kann sich aber Zeitschriften und Zeitungen nach Stammheim schicken lassen. Diese kommen
dann gegen 13 Uhr nachmittags mit der normalen Post. TV gibt es bei Bezahlung der Miete, der Gebühren und der Stromrechnung.
GEA: Wie verläuft ein Besuchstermin?
Schweinle: Diese Termine sind sehr lange im Voraus zu bestellen, da es viele Gefangene
und wenige Beamte gibt. Am Anfang hört immer ein Beamter mit. Bei Ausländern muss zusätzlich ein Dolmetscher dabei sein. Bei
Gefangenen, die schon länger drin sind, gibt es die rein optische Überwachung. Ein Beamter beobachtet einen Raum mit vier Zellen
aus Glas. Vor dem Besuch wird der Gefangene total durchsucht, also auf Briefe oder sonstige nicht erlaubte Gegenstände. Der Besucher
genauso, insbesondere auf Briefe und Rauschgift. Wir reden hier nicht von einer oberflächlichen Überprüfung wie es die
Sicherheitsbeamten bei einem US-Flug machen. Die Durchsuchung erfolgt sehr gründlich. Bei der dritten und härtesten Variante der
Besuchstermine sitzen zusätzlich zwei Beamte der Steuerfahndung dabei und unterbinden jeglichen körperlichen Kontakt.
GEA: Wie war der Kontakt zu den Mithäftlingen?
Schweinle: Bis auf wenige Ausnahmen ganz normal. Problematisch sind nur die Russen, die sich in Gruppen sammeln und auch so
vorgehen. Aber sie sind gesprächsbereit. Sehr gefährlich sind gewalttätige Türken, die ganz offen drohen und erpressen. Da
Zigaretten und Tabak Mangelware sind, wollen bestimmte Gruppen eben andere Gefangene erpressen. Da wird auch Gewalt angewendet.
Zeigt man die Herrschaften an, so helfen die Beamten vor Ort sofort, weil sie wissen, was gespielt wird.
GEA: Mit welcher Sorte von Kriminellen waren Sie in Stammheim?
Schweinle: Da ich sehr lange dort war, habe ich natürlich jede Menge Leute kennen gelernt. Vom Vater, der seinen Sohn umgebracht
hat, nur weil er seiner Frau das Kind nicht gegönnt hat, über Massen von Junkies, die man gar nicht als direkt kriminell einstufen
kann. Da waren Dealer jeglicher Art und Größe. Also vom 17-Jährigen, der Pillen verteilt, bis zum Kolumbianer oder Rumänen, der
nichts unter einigen Tonnen gehandelt hat. Da waren aber auch viele Betrüger, Vergewaltiger, Kinderschänder, Diebe, Bankräuber.
Menschen, die bei einem Ehestreit die betrunkene Frau geschlagen haben, bis zur angeblichen Hochfinanz. Manche Geschichte ist ganz
interessant anzuhören, aber lernen kann man dabei nichts! Die Masse an Gefangenen waren Ausländer, mehr als die Hälfte von ihnen
Türken.
GEA: Zurück zum Alltag: Wie war die Verpflegung?
Schweinle: Das ist eine schwierige Frage. Wenn man gutes Essen gewöhnt ist, dann ist es katastrophal. Wenn man abnehmen will,
sehr gut. Zu Beginn gab es Essen von außerhalb, also von einem Fertigmenü-Lieferanten. Das war ganz in Ordnung. Danach kam das
Essen von der neuen Gefangenenküche. Dort arbeiten dann eben Gefangene, die niemals gekocht haben oder auch noch nie eine Küche
von innen gesehen haben. Das ist eben so. Oftmals versteht man nicht, dass man aus ordentlichen Zutaten so etwas hinbiegen kann.
Dazu wird viel Brot ausgegeben, um den Hunger der vielen rauschgiftsüchtigen Gefangenen zu befriedigen.
GEA: Kann man etwas kaufen?
Schweinle: Ja, einmal in zwei Wochen. In einer Art Tante-Emma-Laden, wo man zu entsprechend hohen Preisen Obst, Zigaretten und
geschlossene Lebensmittel einkaufen kann. Natürlich ist das zum einen durch das von der Familie überwiesene Geld begrenzt und zum
anderen der Höhe nach reglementiert. Soweit ich mich erinnere auf 150 Euro pro Monat.
GEA: Wie sah Ihre Zelle aus?
Schweinle: 8,5 Quadratmeter, ein etwa 35 Zentimeter großes, quadratisches Gitterfenster mit einem zusätzlichen Gitter von außen.
Der Boden ist aus Linoleum, die Wände aus Beton mit Spezialanstrich. In der Zelle gibt es ein Holzbett mit einer acht Zentimeter
dicken Schaumstoffmatratze, die sicher älter als ich war. Im Sommer ist die Zelle heiß (da keine Luftzirkulation stattfindet),
im Winter einfach kalt. Der Heizkörper befindet sich in der Ecke, gibt kaum Wärme ab. Die Zelle ist länglich, auf der einen Seite
ist das Fenster, auf der anderen Seite die Türe und das WC, daneben ein Waschbecken mit ausschließlich kaltem Wasser. Das WC ist
ohne jeglichen Sichtschutz. Wenn die Türe aufgemacht wird, dann ist man eben auf dem WC oder nicht. Die Geruchsbelästigung können
Sie sich wohl vorstellen. Man kann das Licht selbst an- und ausstellen. Einen Fernseher bekommt man, wenn man die Miete und die
Gebühren zahlt.
GEA: Wie waren Sie gekleidet? Mussten Sie Anstaltskleidung tragen?
Schweinle: Als U-Häftling darf man nach einigen Tagen und auf Antrag seine eigene Kleidung tragen. Aber sobald sie einen Job
annehmen, egal ob in der Bücherei oder Kammer, müssen sie Anstaltskleidung tragen. Angeblich, um bei einem Fluchtversuch die
Gefangenen vom Rest unterscheiden zu können. In der Kammer, wo Thomas Betz arbeitet, sind fünf bis sechs Gefangene tätig und vier
Beamte. Sie geben Anstaltskleidung und Bettzeug aus.
GEA: Welchen Job hatten Sie während Ihres Aufenthalts?
Schweinle: Ich war in der Gefängnis-Bücherei. Aber nur solange, bis mein angeblicher Komplize wegen des Prozesses nach Stammheim
kam. In diesem Jahr, also von September 2002 bis August 2003, war für uns verschärfte Isolationshaft angeordnet. Das bedeutet,
dass wir nicht arbeiten, keine Gruppen besuchen und vor allem nicht in die Kirche gehen durften. Kirche ist entweder samstags oder
sonntags.
GEA: Verändert man sich während der Haftzeit?
Schweinle: Ja, auf jeden Fall. Ich behaupte: Je bürgerlicher man gelebt hat, umso mehr verändert einen die U-Haft. Man begreift,
dass Hitler erst 1945 Selbstmord gemacht hat und die Stasi 1989 abgeschafft wurde. Man muss begreifen, dass die Justiz als einzige
Gewalt eben keine radikale Demokratisierung erlebt hat. Widerstand wird nicht als Denkanstoß verstanden, sondern als offene Revolte.
Letztendlich muss klar sein, dass durch die U-Haft die Angstschwelle vor nochmaliger U-Haft massivst sinkt. Man hat es ja dann schon
mal erlebt. Auf der anderen Seite wird man fast wahnsinnig aus Sorge um die Familie und deren Existenz.
GEA: Gab es auch positive Seiten?
Schweinle: Ja, unbedingt. Man begreift, dass die Kirche die einzige Kraft ist, welche gegen willkürliche Justiz gegenhält. Man
begreift auch, dass die Familie das Wichtigste im Leben ist. Man muss begreifen, dass man sein späteres Leben anders ausrichten
muss. Man sollte darüber nachdenken, dass man vor 60 Jahren Menschen noch im Innenhof des Landgerichtes Stuttgart hingerichtet
hat. Als Unternehmer sollte man begreifen, dass man knallhart nur noch ans Geld verdienen denken sollte und nicht wie vorher an
die Arbeitnehmer und an das ehrenvolle Steuernzahlen. Man muss auch begreifen, dass die Verwaltungsdiktatur viele kleine anständige
und aufrechte Beamte beinhaltet, die wirklich alles tun, was möglich ist, um das Elend zu erleichtern. Leider sind diese Beamten
durch ihren Job ziemlich desillusioniert.
GEA: Was taten Sie als Erstes, als Sie wieder draußen waren?
Schweinle: Was hätte ich als ganz normaler, unschuldiger Bürger tun sollen? Bin abends von meinem Anwalt, der zufällig in
Stammheim war, heimgefahren worden und habe mit meiner Familie zu Abend gegessen. Es war uns allen wichtig, dass dieses
Willkürverbreche eben nicht unser Leben zu bestimmen hat. Am nächsten Morgen (es war Feiertag) bin ich mit meinen beiden Jungs
zum Joggen gegangen und dann arbeiten. Eben wie immer. Nur mit einer Unterbrechung von zwei Jahren und sieben Monaten. (GEA)
DER FALL SCHWEINLE
Zwei Jahre und sieben Monate:
BGH kritisiert unangemessen lange Untersuchungshaft
Gerhard Schweinle (44), Spediteur aus Neudenau (Kreis Heilbronn), war angeklagt, weil er über 1000 Mercedes-Benz-Neuwagen mit
Rabatt gekauft und ins Ausland weiterverkauft hatte. Wegen dieser Graumarkt-Geschäfte war der Unternehmer 2003 wegen Betrugs und
Steuerhinterziehung zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil hat der Bundesgerichtshof (BGH) allerdings kassiert: Im
Hauptanklagepunkt Betrug wurde Schweinle freigesprochen, der Punkt Steuerhinterziehung wurde an das Landgericht zurückverwiesen.
Im März 2005 wurde Schweinle, der zwei Jahre und sieben Monate in Untersuchungshaft gesessen hatte, wegen Steuerhinterziehung zu
zwei Jahre und acht Monaten Haft verurteilt. Auch dieses Urteil hat der BGH aufgehoben: Weil von der ursprünglichen Anklage der
gravierendere Vorwurf des Betrugs weggefallen und nur noch die Steuerhinterziehung übrig geblieben ist, sei nicht erkennbar, wie
das Landgericht auf die relativ hohe Strafe von zwei Jahren und acht Monaten komme. Im neuen Verfahren müsse das Landgericht laut
BGH außerdem die gemessen am übrig gebliebenen Vorwurf unangemessen lange Untersuchungshaft von zwei Jahren und sieben Monaten
berücksichtigen. Momentan ist Schweinle noch wegen »bedingtem Vorsatz der Steuerhinterziehung« verurteilt. Aber auch diesen Vorwurf
will er nicht auf sich sitzen lassen. »Wir klagen vor dem Finanzgericht in Stuttgart gegen den Steuerbescheid und werden solange
kämpfen, bis auch dieses Unrecht abgestellt ist«, kündigt Schweinle an. Vor seiner Verhaftung 2001 hatte er eine Logistikgruppe mit
500 Lkw. Diese löste seine Ehefrau während seiner Untersuchungshaft auf.
Die Hintergründe des Falls Schweinle werden in »Das Daimler-Desaster« von Buchautor Jürgen Grässlin beschrieben.
(GEA)
www.juergengraesslin.com