Die Affäre um das Standard-Gewehr der Bundeswehr G36 spitzt sich zu. Der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin und der Anwalt Holger Rothbauer haben Strafanzeige gegen den ehemaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière und den Waffenhersteller Heckler & Koch gestellt.
Von: Daniel Harrich, Katja Beck, Tobias Bönte und Patricius Mayer
[Foto] Zur Infografik G36-Strafanzeige
Besonders schwerer Fall von Untreue: So lautet der Vorwurf der Strafanzeige, die bei der Staatsanwaltschaft Bonn gestellt wurde. Hintergrund ist: Bereits im Januar 2011 hat eine anonyme Anzeige auf gravierende Mängel des Bundeswehr Standard-Gewehrs G36 hingewiesen, eingegangen bei Rüdiger Wolf, damaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium. Trotzdem wurden weitere G36 beschafft. Heute muss Thomas de Maizière im Verteidigungsausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen.
Geheime Dokumente
[Fotos Grässlin / Rothbauer]
Interviews mit Rüstungsgegnern »Die Zusammenarbeit erschreckt mich immer mehr«
Dokumente, die als VS-Geheim (Verschlusssache Geheim) eingestuft sind und dem Rechercheteam von SWR und BR exklusiv vorliegen, belegen, dass Thomas de Maizière spätestens im März 2012 über die G36-Problematik informiert wurde. Die für die Prüfung des G36 zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium, Rü V 4, hat in einem internen Schreiben für Thomas de Maizière festgehalten: »Alle bisher untersuchten G36 zeigen eine Veränderung des mittleren Treffpunkts und eine Aufweitung des Streukreises derart, dass ein Gegner in einer Entfernung von 200m nicht mehr sicher bekämpft werden kann.«
[Foto Grässlin und Rothbauer]
»Auf Grund dieser Unterlagen des BR und SWR aus dem Verteidigungsministerium habe ich mich entschlossen, zusammen mit Jürgen Grässlin, Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft in Rottweil zu stellen. Die Strafanzeige lautet auf Betrug in besonders schwerem Fall wegen der Dimension und eine zweite Strafanzeige ist gestellt bei der Staatsanwaltschaft in Bonn wegen des Verdachts der besonders schweren Untreue, denn hier sind mit öffentlichen Geldern Schäden angerichtet worden, die spätestens ab dem Jahr 2011 hätten nicht mehr angerichtet werden dürfen. Nämlich durch die Bestellung, Lieferung und Zahlung von Gewehren G36, die nicht ausreichend funktionsfähig sind.«
Holger Rothbauer, Anwalt
Die Prüfer kommen zu dem Schluss, dass das G36 »aus militärischer Sicht einen erheblichen Mangel« darstellt.
[Foto: Textgrafik] Zu Infografik. Kernaussage der Ministervorlage
Einen Monat später fragt eine Mitarbeiterin de Maizières einen weiteren Bericht an, sowohl bei der Bundeswehrbeschaffungsbehörde, wie auch bei den zuständigen Abteilungen im Verteidigungsministerium. »Der Minister hat nach Vorlage des letzten Sachstands weiteren Informationsbedarf«, heißt es in dem internen E-Mail-Verkehr. Zehn Tage später antwortet eine andere Abteilung (Fü SK III 1) und kommt zu einem gegensätzlichen Ergebnis. Obwohl die Überprüfungen weiter durchgeführt werden müssten, heißt es jetzt:
»Das Sturmgewehr G36 wird als grundsätzlich tauglich für die Erfordernisse der laufenden Einsätze bewertet. (…) Konkrete Meldungen der Truppe über die Treffleistung liegen weder aus dem Einsatz noch aus dem Ausbildungsbetrieb heraus.« Dies trifft so nicht zu. Mängel am G36 waren intern schon länger bekannt. Beispielsweise, stellte 2009 der Teamführer des 3. Kampfschwimmereinsatzteams in einer dienstlichen Meldung fest:
Mängel von G36 intern schon länger bekannt
[Foto Textauszug] Zur Infografik G36. Dienstliche Mitteilung Kampfschwimmerkompanie
»Diese Sicherheitsmängel der Waffe G36 sind erstmals während der Vorbereitung auf den Afghanistaneinsatz im September 2008 beobachtet worden und traten abermals im Einsatz auf. (…) Folglich lehne ich eine zukünftige Verwendung der Waffen und die damit verbundene Verantwortung kategorisch ab.« Während man sich in der Behörde über Zuständigkeiten stritt, lief die Beschaffung ungehindert weiter. Seit de Maizières Kenntnisnahme im März 2012 bis zum Ende seiner Amtszeit wurden mindestens vier weitere Verträge über G36-Gewehre und Zubehör abgeschlossen. Recherchen legen nahe, dass dabei mindestens 3.770 Gewehre mit einem Wert von ca. 4 Mio. Euro beschafft wurden.
Fragen an Thomas de Maizière
Haben sämtliche Kommunikationswege und Kontrollmechanismen im Verteidigungsministerium komplett versagt? Warum wurden die Hintergründe der G36-Problematik nicht konsequent aufgeklärt? Wurde der Bundeshaushalt mit der weiteren Lieferung von mangelhaften G36-Gewehren belastet, obwohl dies verhindert hätte werden können? Viele Fragen an Thomas de Maizière.
Jetzt haben der Rüstungsgegner Jürgen Grässlin und Anwalt Holger Rothbauer Strafanzeige gegen den Minister bei der Staatsanwaltschaft Bonn gestellt. Zudem haben beide Strafanzeige gegen den Hersteller des G36, die Firma Heckler & Koch gestellt. Der Vorwurf: Betrug in einem besonders schweren Fall.
[Foto] Rüstungsgegner Jürgen Grässlin
»Es ist unglaublich, wie eng die Firma Heckler & Koch kooperiert hat mit dem Bundesverteidigungsministerium. Es sind Zustände, die mich an mafiöse Zustände erinnern, weil wir fast nicht mehr wissen, wenn wir den Briefwechsel lesen: Was ist das Interesse von Heckler & Koch, und was ist das Interesse des Bundesverteidigungsministeriums? Das Ergebnis ist, dass vertuscht worden sein könnte, und ich jetzt Strafanzeige stelle, in zweierlei Hinsicht: Erstens gegen die Firma Heckler & Koch wegen des Verdachts des Betrugs im Fall G36, und zweitens gegen das Bundesverteidigungsministerium wegen des Verdachts der Strafvereitlung im Amt.«
Verfahren 2011 eingestellt
Damit wollen sie die Wiederaufnahme der Ermittlungen von 2011 erwirken. Die Staatsanwaltschaft Rottweil hatte damals wegen Betrug gegen den Waffenhersteller ermittelt. Nach wenigen Monaten allerdings wurde das Verfahren eingestellt, da der Vorwurf nach über 10 Jahren verjährt war. Das Verteidigungsministerium hatte der Staatsanwaltschaft jedoch möglicherweise nicht sämtliche Verträge zur Verfügung gestellt. Wie die Sichtung geheimer Unterlagen zeigt, könnten zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung mindestens 40 Verträge für das Ermittlungsverfahren »Betrug« relevant gewesen sein. Warum das Verteidigungsministerium diese nicht anführte, bleibt offen.
http://www.br.de/nachrichten/strafanzeige-de-maiziere-100.html