1. Ich habe das strittige TV-Interview in der »Landesschau« des Südwestrundfunks (SWR) am 28. Juli 2005, dem Tag der Rücktrittsankündigung des damaligen DaimlerChrysler-Vorsitzenden Jürgen E. Schrempp, gegeben. Am Morgen hatte der Konzern eine Ad-hoc-Meldung zum bevorstehenden Schrempp-Rücktritt ohne ein Wort des Dankes oder den Hinweis auf eine Abfindung publiziert, obwohl Schrempps Vertrag erst im Vorjahr für vier weitere Jahre verlängert worden war.
2. Im Live-Interview des SWR wurde ich nach den möglichen Rücktrittsgründen Schrempps befragt. Ich habe meine Antworten bewusst mit den Worten »Ich muss jetzt mutmaßen.«, »meines Erachtens« und »Ich glaube nicht, dass.« als Meinungsäußerung formuliert.
3. Die daraufhin seitens DaimlerChrysler und Schrempp gegen mich folgende Unterlassungserklärung habe ich nicht unterzeichnet. Nachdem die Landgerichte Köln und München die Eröffnung des Verfahrens gegen mich ablehnten, erließ das Landgericht Hamburg eine Unterlassungsverfügung. Mein Rechtanwalt Holger Rothbauer aus Tübingen legte dagegen Widerspruch ein. In der zweiten mündlichen Verhandlung konnte ich die Anknüpfungspunkte meiner Meinungsäußerung vor Gericht darstellen, Daimler legte danach eine schriftliche Stellungnahme vor.
4. Das Landgericht Hamburg verschob den Urteilsspruch in der Unterlassungsklage zweimal für je einen Monat mit der Begründung, der Fall sei schwierig zu beurteilen.
5. Mit dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 19. Januar 2007 bleibt die gegen mich erwirkte Unterlassungsverfügung in vollem Umfang bestehen. Aus meiner Sicht stellte der Vorsitzende Richter Andreas Buske Persönlichkeitsrecht über Meinungsfreiheit - in Hamburg gilt offenbar Konzernrecht. Die Wiederholung der beiden Schrempp- und konzernkritischen Meinungsäußerungen zu den Rücktrittsgründen und dem Geschäftsgebaren Schrempps ist mir weiterhin bei Strafe untersagt.
6. Während andere Journalisten wesentlich drastischere Aussagen getroffen haben (z.B. »Ackermann vertreibt Schrempp. Deutsche Bank erzwingt offenbar Ablösung des Daimler-Chefs« in der Stuttgarter Zeitung u.v.a.m.), schießt der Konzern mit voller Breitseite gegen mich. Bei Wiederholung beider Meinungsäußerungen drohen mir ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro oder eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten. Allerdings wurden auch eine Vielzahl von Journalisten, die über meinen Fall berichteten oder mit mir Interviews führten, mit Unterlassungserklärungen konfrontiert und haben sich seither deutlich zurückgenommen.
7. Ich werde mit der juristischen Keule massiv unter Druck gesetzt. Die Gesamtstrategie des Konzerns zielt meines Erachtens darauf ab, mich als Sprecher der Kritischen AktionärInnen DaimlerChrysler (KADC) und als Buchautor mundtot zu machen.
8. Zwar hat das Landgericht Hamburg meine Aussagen als Meinungsäußerung anerkannt, mir jedoch vermeintlich fehlende Anknüpfungspunkte zur Last gelegt. Diese
Feststellung des Gerichts kann ich nicht einmal ansatzweise nachvollziehen. In mehreren Schriftsätzen hat mein Rechtsanwalt Rothbauer dem Gericht umfassendes
Material über die Graumarktgeschäfte und eine notariell beglaubigte Eidesstattliche Versicherung über die darin unterstellte Verwicklung Schrempps, Ermittlungen
der US-Börsenaufsicht zu Schwarzen Kassen und Korruption in der Ära Schrempp, das Schrempp-Interview in der Financial Times mit der Folge von
Vergleichszahlungen in dreistelliger Millionenhöhe an Chrysler-Aktionäre und höchst bedenkliche Rüstungsgeschäfte vorgelegt.
Diese werfen Schatten auf die Art der Schremppschen Geschäftspraxis und sind Indizien für den vorzeitigen Rücktritt Schrempps - Anknüpfungspunkte für Schrempp-
und konzernkritische Meinungsäußerungen gibt es demnach mehr als genug.
9. Absurd ist meines Erachtens die Forderung von Richter Buske, wonach bei einem »Kenner der Materie«, als den er mich klassifiziert, die Messlatte höher gelegt werden müsse. Mit einem solchen Urteil wird eine Zweiklassengesellschaft geschaffen: Der Stammtisch darf ohne Recherche lospoltern, Experten bekommen einen Maulkorb verpasst.
10. Der Journalist Hermanus Pfeiffer hatte zu diesem Fall geschrieben: »In Hamburg streitet der frühere DaimlerChrysler-Herrscher Jürgen Schrempp mit dem Autor
von ,Das Daimler-Desaster', Jürgen Grässlin. Aber eigentlich steht die Meinungsfreiheit vor Gericht.«
Wenn Autoren, Journalisten, Aktionäre oder mündige Bürger fortan nicht mehr mit guten Gründen öffentlich den vorzeitigen Rücktritt oder die Geschäftspraxis
eines umstrittenen Topmanagers hinterfragen und Mutmaßungen zu den Gründen anstellen dürfen, dann leben wir in einer anderen Republik.
11. Nicht nur vor dem Landgericht Hamburg, sondern auch vor anderen deutschen Gerichten, wird die Meinungs- und Pressefreiheit wohl seit geraumer Zeit sukzessive zu Grabe getragen. Ein Urteil wie dieses ist ein weiterer Sargnagel zur Aushebelung der Meinungsfreiheit in einer Zeit des permanenten Abbaus von Bürgerrechten. Das Landgericht Hamburg hat die so genannten Unternehmenspersönlichkeitsrechte <!> eines Konzerns und damit Persönlichkeitsrecht über die grundgesetzlich verankerte Meinungsfreiheit gestellt, indem es die zahlreichen Anknüpfungstatsachen nicht ausreichend berücksichtigt hat. Viele Sargnägel werden den Sarg verschließen, in ihm ruht das Grundgesetz.
12. Um dieser Entdemokratisierung entgegen zu treten, wird mein Rechtanwalt Rothbauer gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen, das Verfahren wird in nächster Instanz vor dem Hanseatischen Oberlandsgericht verhandelt werden.
Jürgen Grässlin
Freiburg, den 21.01.2007